Wenn strenge Umgangsformen das Verhalten regeln, entsteht Not. Die Not, sich nicht ausleben zu können, schafft Notwendigkeit, genau dies zu tun: So müssen sich die 1920er Jahre in Berlin wie ein großer, kollektiver Befreiungsschrei angefühlt haben – als die Zylinder-Ära zigarrenrauchender Männer mit dicken Bäuchen von einer lustfunkensprühenden Charlestonwelle niedergewalzt wurde. Auf einmal öffnete eine Gesellschaft ihre Schleusen, die sich vorher für jeden aufregenden Gedanken auf die Finger gehauen hat.
Wir haben jetzt auch Regeln. Sie sind gut und wichtig: Masken bewahren uns vor Krankheiten, eine zunehmende Sensibilität gegenüber benachteiligten Gesellschaftsgruppen schafft einen Konsens der Vorsicht. Aber das reicht mir nicht. Täglich erleben wir, wie mit angeschaltetem Lautsprecher telephoniert wird – in Cafés, in der Bahn, auf den Straßen. Wie Endorphinjunkies lautstark ihre Instagramstorys durchscrollen, während sie vor lauter scheinbarer Bewegung in ihren erbärmlichen Handyscreens verpassen, wie ihr langweiliges Leben an ihnen vorbeizieht. Und lärmend an uns.
In einem Anzug von Herr von Eden erscheint einem ein Anorak barbarisch. Photo: Martin Peterdamm
Anorakbann und Atmosphärenverpflichtung
Ich bin sehr dafür, die Schrauben der Alltagsregeln enger zu drehen, hier ein paar Ideen: Telephonierverbot in der Öffentlichkeit. Wer hupt, verliert seinen Führerschein für eine Weile. Auf die Straße spucken gibt Ärger. Eine Ästhetik-Kommission verhindert, dass hässliche, zu große Autos in die Städte kommen. Außerdem verabschiedet dieselbe Kommission den Anorakbann für Theater und Opernhäuser. Eine Atmosphärenverpflichtung zwingt Gastronomen, sich an Wiener Kaffeehäusern zu orientieren. Dort hat man nämlich seine Ruhe. Das Ausstellen einer seltenen Beschallungslizenz erfordet den Nachweis kultureller Kompetenz. Gastronomiepersonal muss in einer Aufnahmeprüfung beweisen, dass es Besteck lautlos einsortieren kann. Taxifahrer bekommen eine Schulung in Grundlagen des höflichen Umgangs. Kinobetreiber, die ihren Gästen erlauben, Chips und Rascheltüten mit in den Saal zu nehmen, müssen empfindliche Strafen zahlen. Bei wiederholtem Verstoß wird ihre Lizenz auf Actionfilme begrenzt, deren Tonspur von Detonationen, Motorenlärm und Artillerie bestimmt wird.
Bier- und Grölverbot bei Fußballspielen
Bei Fußballspielen erscheint mir ein Bier- und Grölverbot sinnvoll. Fangruppen, die dem Sicherheitspersonal allerdings einen mehrstimmigen Choral in aufrechter Körperhaltung vorsingen, dürfen nach einer kurzen psychologischen Eignungsprüfung einen Pappbecher Sekt erwerben. Nach dem Spiel. (Rotkäppchen Halbtrocken).
Statements aus dem Bekenntnispool
Bei Beantragung eines Social-Media-Accounts erfolgt eine Feststellung des Schreibniveaus: Wer sich in ganzen Sätzen mitzuteilen versteht und Groß- und Kleinschreibung beherrscht, landet in der A-Kategorie, ein maßvoller Umgang mit Emojis vorausgesetzt. A-User erkennt man am Profilbild in Farbe, es ist frei von Bekenntnissen und Gesinnungs-Statements. Wer vor allem Beleidigungen, und diese in Großbuschstaben postet, wird als B-Kunde eingestuft. B-Kunden benutzen mehrere Ausrufezeichen, um ihre Überzeugung zu unterstreichen. Ein vierfaches Fragezeichen dient ihnen als Erkundigung, ob alle bescheuert sind außer ihnen selbst. Ihre Profilbildeinstellung bleibt bis zum Nachweis geistig-seelischer Würde schwarzweiß. In der Kategorie C landen notgeile Stalker, pöbelnde Besserwisser, Digitaldemagogen, Holocaustskeptiker und pensionierte Altlinke, die in Kleinbuchstaben hingeworfene Pamphlete schreiben. Statt eines Profilbilds können sie sich bis zu dreimal am Tag ein Statement aus einem stets upgedateten Bekenntnispool aussuchen: „Bin geil!“, „Fickt euch!“, „Keiner versteht mich!“, Corona ist Lüge!“, „Wir leben im Faschismus!“, etc.
Schaffen wir die Goldenen Zwanziger nochmal?
Wenn die Politik hier schnell ist und die neuen Verordnungen rasch durchsetzt, spüren wir als Gesellschaft ca. im Jahr 2025 ein schmerzhaftes Übermaß an Reglement. Dann bleibt uns noch ein halbes Jahrzehnt, um der Idee der neuen 20er Jahre gerecht zu werden: wir werfen all die Gesetze wieder über Bord und feiern bizarre Home-Office-Orgien. Graue Büromäuse verwandeln sich in glamouröse Raubkatzen, domestizierte Selbstoptimierer finden zu selbstvergessener Lust. Durch die neue Freiheit entsteht Größenwahn. Die folgenden drei Jahrzehnte sollten wir allerdings überspringen und aus unserer lustvollen Lockerheit gleich die neuen 60er versuchen.
Made our day!
Passend zum Morgenkaffee haben wir viel gelacht.
Mein Lieblingsverbot: "Das Ausstellen einer seltenen Beschallungslizenz erfordet den Nachweis kultureller Kompetenz."