Verehrte Sonntagskindlesende, Freundinnen und Geneigte,
ich könnte, das Bild verrät es, glücklicher gerade nicht sein – den Grund verrate ich Euch im kommenden, dem 199. Sonntagskind.

Heute, mit dem 198. Sonntagskind habe ich eine Bitte: Immer wieder fragen mich Geschäftsleute, was ich da eigentlich mache mit diesem Sonntagskind, was mein Unique Selling Point ist, usw. Meine Antworten sind dann meist kryptisch. „Frühstücksliteratur” murmele ich, „Inspiration, satirisch manchmal.” Aha. Und wen interessiert das? „Nur sehr sexy, gebildete und wohlduftende Lebeleute der besten Art!” – sage ich dann, die Marketingexperten schütteln den Kopf. Jetzt, nach vier Jahren Sonntagskind, kommt eine Umfrage – wer sollte besser beschreiben können, was Sonntagskind ist als Ihr? Bitte, macht mir die Freude und lasst mich in Eure schönen Köpfe schauen (Klick aufs Bild):
Nun aber viel Freude mit der heutigen Kolumne:
Carsharing ist eine tolle Sache. Anstatt mit einem Privatauto dazu beizutragen, dass noch mehr Blech in der Stadt rumsteht, mache ich die App auf, finde meist ein paar Minuten entfernt ein Auto, buche es – und steige ein. Nach der Fahrt stelle ich es irgendwo ab, die Parkgebühren sind schon bezahlt, und zumindest in Berlin dauert es nicht lang, dann ist die Karre auch schon wieder verschwunden, weil jemand anders damit fährt.
Nach jeder Fahrt bekomme ich eine Mail. „Deine Rechnung“ steht dann da. Hm. Schon gut, wir sind alle modern und amerikanisiert, easy im Umgang. Wir duzen einander. Meinem 19. Jahrhundert-Ego missfällt das.
Manchmal schicke ich der Carsharingfirma Fotos, wenn wieder jemand seinen angefressenen Döner auf dem Beifahrersitz liegen gelassen hat, nachdem er eine Zigarette darin ausgedrückt hat. Ich vermeide in diesen Mails die Anrede, um nicht durch demonstratives Siezen wie ein pflichtverstockter Hobbydenunziant zu wirken, der Quertreiber an die Obrigkeit verpetzt. Ich will aber durch scheinprivates Duzen auch nicht die Ernsthaftigkeit meines Handels mit der Carsharingfirma unterwandern: Schließlich finde ich, man könnte angesichts verdreckter Mietautos Betroffenheit ausdrücken und rücksichtslose Schmutzfinken der Community verweisen bzw. ihnen die Menschenrechte entziehen.
Unangenehm wird die Firma erst bei Kratzern und Beulen: Mir wurde ein Lackschaden angedichtet, für den ich nicht verantwortlich war. Zum Glück kam diesemal keine Duz-Mail, in der es hieß: „Hey, es hat gebumst bei dir oder was? Magst du das mal schnell für uns aufzeichnen, wie es dazu kam? Und schreib mal, was passiert ist, damit wir dir eine gepfefferte Rechnung schicken können, weil wir dich nicht nur in Grund und Boden duzen, sondern die Sache auch sofort an unsere teuren Anwälte geben, die du dann auch bezahlst, ist doch klar. Schick mal heute noch, damit wir deinen Account nicht sperren müssen, sorry!“
So also nicht – stattdessen greift bei drohender juristischer Kommunikation der im Handel gewohnte seriöse Siezton. Ich finde das beruhigend. Es hilft uns allen, die Würde zu behalten. Man kann beim Siezen den Ton verschärfen, ohne gleich persönlich zu werden – das ist duzend nicht zu machen.
Anfang der 2000er habe ich ein paar Jahre im legendären Brecht-Theater in Berlin gearbeitet, dem Berliner Ensemble. „Jearbeetet?“ fragt der Berliner, wenn ein sogenannter Künstler das A-Wort benutzt. Arbeitslose und Künstler werden prinzipiell geduzt, im Theater war das komplizierter: Der nicht minder legendäre Intendant des berühmten Hauses pflegte ein eigenes System der Ansprache. Er duzte nicht jeden. Junge Schauspieler: geduzt und mit dem Vornamen angesprochen. Ältere Kollegen, die schon länger im Beruf waren: duzte der Meister mit dem Nachnamen an, ohne „Frau“ oder „Herr“ davor. „Gründgens, geh mal zwei Schritte vor.“ Auch leitende Mitarbeitende wie technische Direktoren und Kostümchefinnnen genossen die militärische Ansprache ohne Honorativ. Dann gab es die Kollegen auf Leitungsebene, den Chefdramaturgen, den der Regisseur auch nach Jahrzehnten gemeinsamer Arbeit noch mit „Herr“ und seinem Nachnamen ansprach. Die Regie-Koryphäe verteilte mit seiner Ansprache Rangabzeichen – ein wichtiges Element der Orientierung in einem so hierarchischen Umfeld wie dem Theater. Kein Wunder, wenn keiner zur Bundeswehr will, wenn man Militärfeeling auf den Bühnenbrettern kriegt.
Eine besonders vornehme Art des Siezens ist das Hamburger Sie: „Cornelia, Sie sehen heute wieder bezaubernd aus!“ Die Verbindung vom Sie mit dem Vornamen: wie, wenn man bei einem vorsichtigen Rendez-Vous im Kino nebeneinander sitzt und die Knie sich eine Sekunde zu lange berühren – und sich das gut anfühlt. Kein Vergleich zum Hamburger Sie ist das Discounter-Du: „Frau Schmidt-Jelinek, hast du noch Centstücke?“ – hier wird die Berufsdistanz durch demonstratives Mit-dem-Nachnamen-Ansprechen erfüllt, , schließlich will man vor der Kundschaft nicht den Eindruck erwecken, hier würden alle, wenn keiner guckt, eine Riesenparty feiern.
Mit Frau oder Herr plus Nachname geduzt fühlt sich das Miteinander unter Betriebsangehörigen vielleicht nicht an, als müsse man voreinander Theater spielen.
Ist unser ganzes Leben nicht ein großes, rollendes Theater? Wir steigen ein, übernehmen eine Rolle, fahren ein Stück, steigen wieder aus. Doch wie wir einander ansprechen, das bleibt entscheidend: Das „Sie“ ist ein Schutz, ein feines Tuch über der Verletzlichkeit. Das „Du“ ein Ausdruck von Nähe – oder Nachlässigkeit. Und wer versteht, dass auch ein geliehener Wagen ein Bühnenbild ist, das man nicht beschmutzt, sondern achtungsvoll bespielt, ist auf dem richtigen Weg. Wohin auch immer.
Kleine Handlungsanweisung (gesiezt):
I. Leihen Sie öfter mal ein Auto – aber bitte mit Haltung. Und geben Sie es so zurück, das man Lust hat, darin Macbeth zu spielen.
II. Siezen Sie mehr. Es schützt vor unangemessener Vertraulichkeit und erspart peinliche Duz-Unfälle.
III. Behandeln Sie Theaterintendanten und fremde Menschen stets so, als würden diese später über Sie schreiben.
IV. Kommentieren Sie gern – aber denken Sie daran: Wer duzt, sollte auch liefern. Und wer siezt, darf leise glänzen.
Unterstützen Sie mich finanziell – nicht aus Mitleid, sondern aus Geschmack. Denn guter Stil ist selten, und diese Kolumne trägt Maßanzug.
PS: Zum Thema Siezen habe ich auch diese schöne Kolumne für Euch: