Liebe sehr verehrte Lesende,
seit vier Jahren schreibe ich jeden Sonntag. Warum? Darum! Dass sich um meine wöchentliche Sandburg eine so kunstliebende und lebensbejahende Gemeinschaft versammelt – und wächst, lockt mir regelmäßig ein glückliches Lächeln ab, mit Blick auf den Ozean dessen, was möglich ist – alles!
Mitten in meinem finalen Umzug der Berliner Wohnung auf mein Hausboot am Stettiner Haff verbringe ich jede freie Minute unter dem Kopfhörer, um den Hörfilm zur 200. Ausgabe von Sonntagskind fertigzustellen. Das heißt: Eure Sprachnachrichten mischen, platzieren, sie so kombinieren, dass sie Bedeutung anziehen, Schönheit preisen und ans Glück zu leben erinnern. Dem Klang Eurer Stimmen Melodien und Rhythmen entlocken, die sich in einem polystilistischen Arrangement wiederfinden, das ich mit meinen Keyboards und Sampling-Librairies einspiele und um mehrstimmigen Gesang ergänze. Herausgekommen ist ein Sonntagskindkonzentrat: Ein assoziatives Best-of aus 199 Kolumnen, kollektiv-subjektiv, leidenschaftlich, spielvoll – ich liebe es. Vielleicht entsteht hier eine neue Art von Hörfilm / Podcast / Melodram – lasst uns bitte darüber austauschen – ich bin gespannt, ob Euch diese Art von klingender Meditation zu erhellen vermag, und ob Ihr mehr davon mögt.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich nicht alle Einsendungen benutzen konnte – ich fürchte, bei der Vielzahl der Medien (Whatsapp, Messenger, E-Mail, SMS) ist etwas verloren gegangen. Wenn Du Dich fragst: He, wo ist mein genial eingesprochener Satz, den ich Dir geschickt habe? – Es war keine Absicht, nur ein bisschen Chaos. Lass uns zu Weihnachten noch mal so einen Hörfilm machen.
Die 200. Sonntagskind-Kolumne ist also eine klingende. Ich empfehle den Soundgenuss unter guten Kopfhörern – hier sind erstmal die Worte zum Soundtrack:
Anna stellt die entscheidende Frage: What the fuck ist eigentlich Stil? Ein Chor aus lasziven Jazzvögelchen zwitschert es nach, um das Himmelstor für die Ökonomisierung amouröser Bekenntnisse zu öffnen: Anja erklärt uns, warum ein verschwenderischer Umgang mit dem Liebesschwur der Gipfel der Ineffezienz ist.
Plötzlich verfinstert sich das zuvor hoffnungsvolle orchestrale Sentiment: eine wolkenverhangene Melancholie, die den Connaisseur an die Leidensharmonien von Gustav Mahler erinnert, umarmt Dich von innen. Den Verlust an Zuversicht gleicht Christa umgehend aus, indem sie zur Gestaltung aufruft – mach Dein Leben zum Kunstwerk! – wenn auch noch immer in Moll. Claire weiß es genau: Leben in der Stadt heißt Verantwortung, seinen Teil gegen die virale Übellaunigkeit beizutragen.
Claire spricht so funky, dass ich den von ihr gesprochenen Text höre wie ein paar Takte von einem sehr gelassenen Prince. Doch der sinnlich schubbernde Kontrabass bewahrt uns nicht vor urbaner Paranoia: Die anderen sind alle wahnsinnig! Der sonor gesprochene Auszug aus einer Sonntagskindkolumne übers S-Bahnfahren in Berlin möchte im Nebel der Anonymität bleiben. Der 20-jährige Kudamm-Zuhälter, von dem uns Elisabeth berichtet, ist jedenfalls nicht der Sprecher. Daniela hat sich eine meiner Hotelkolumnen ausgesucht und dem Bericht über eine surreale Glückserfahrung beim Berliner Herbstrummel inmitten der Coronatristesse ihre Stimme geschenkt: eine Runde mit dem Melodie-Star, so soll das Leben sein! Eine Wahwahtrompete und ein verhallendes eiffelturmiges Milord-Chanson entführen uns kurz in eine Welt anachronistischen Vergnügens.
Therese erinnert uns in zeitlupigem Wienerisch an die Unmöglichkeit, Genie und Charakterlamm zugleich zu sein. Der Chor bestätigt Regina, die gegen Psychopathen auch keine besseren Mittel zur Hand weiß als sofortigen Angriff. Ist das noch Hochkultur? Mit diesen Korngold-Trompeten hinter ihr: Ja! Steffi macht es richtig und erklärt nicht nur ihr Leben, sondern gleich sich selbst zum Kunstwerk. Tobi verliert sein freundliches Timbre auch dann nicht, als er im Spiegel ein Monster erblickt – es scheint ihm zu gefallen, das Orchester wiegt uns in liebender Sicherheit: Nichts gegen Monster.
Ramona ergänzt das schwelgerische Glück universaler Menschenliebe um eine Mahnung: Erst Gedanken aufräumen, dann reden – ein Satz, um ihn auf Porzellanteller zu brennen? Ramonas Rhythmus zwingt Orchester und Chor zum gemeinsamen Schnabelgroove. Mit dem feierlichem Ernst eines Tagesschausprechers aus der Zeit des kalten Kriegs holt uns Florian mit nur zwei gut sitzenden Silben in die Hauptstadt. Zum Klang einer spätromantischen Orchestertextur, die von einem eleganten Parlando von Flöte und Klavier durchwoben wird, zeigt uns Katharina die härteste Front unserer Gesellschaft: Die Tatsachentrottel gegen die Poesiepioniere.
Wie gut, dass Christoph sich mit dem Hamburger Sie über den Alltagskampf erhebt – und von Peter sanft aufgefangen wird, der mein selbstverliebtes Lebensmotto mit einer Intensität spricht, wie ein Steinmetz sich im Granit verewigt. Ich kann mir diese Vortragstiefe nur mit totaler Übereinstimmung erklären. Hörner, Posaunen und Pauken schwillen mit zärtlicher Apokalypsie an, um Anna La G. das schöne Bonmot mit dem gemeinsamen Hotelzimmer zu entlocken. Nach dieser völlig übertriebenen Reizüberflutung in noch nicht mal drei Minuten hat Rainer keine andere Wahl, als von weiterem Konsum abzuraten.
Hier der Hörfilm: Sonntagskind 200 – vielen Dank für Eure inspirierenden Einsendungen. Ich wünsche einen herrlichen, philosophisch-musikalischen Klang- und Bedeutungstrip:
S O N N T A G S K I N D 2 0 0
Bis nächste Woche,
Euer Mark
Mein lieber Mark,
ein Kommentar, den ich gestern an dich geschrieben, aber dann nicht abgeschickt habe - wie ich dir bei unserer wunderbaren zufälligen Begegnung heute Mittag mitgeteilt habe.
Denn eigentlich sollten dich gestern zum 200. Sonntagskind folgende Sätze erreichen:
Dass ich dich kenne, dass ich seit vier Jahren dein Sonntagskind lesen darf - und überhaupt, dass es dich gibt: für mich ein unvorstellbares Glück, das mir widerfährt!!!
Deine Regine
Hallo Mark,
Guten Morgen, ich lese und schreibe in meinem Bett im Brünkendorf im Wendland. Vielleicht erinnerst du dich an diesen Ort. Ab und zu lese ich deinen Sonntags Blok, heute habe ich es mal wieder gemacht. Du bist wirklich sehr erfinderisch, spielerisch mit den Worten ,Tönen und der permanenten Erhaltung und Steigerung deiner Lebensfreude. Ehrlich gesagt, mir etwas zu enthusiastisch. Aber naja, wenn es für dich so klappt, vielleicht rettest du damit etwas mehr ein Stückchen Welt, als ich mit meiner Melancholie.
Am besten gefällt mir, dass du auf ein Hausboot ziehst. Sollten wir wieder mal an Stettin vorbeifahren Reinhard und ich – das haben wir letztes Jahr gemacht, dann würden wir dich besuchen.
Dann viel Vergnügen mit dem Umzug und eine gute Landung.
Hanna