Jetzt haben die Händler sie in die Supermarktgänge gestellt: Schokoladenweihnachtsmänner, Zimtsterne und Spekulatiuskekse. Wenn Krümelmonster aus der Sesamstraße unverdächtig wirken will, täuscht er ein Liedchen auf den Lippen vor: mit einem scheinbar beiläufigen „Dum di dum di dum“ umtänzelt er sein Opfer, meist einen mäßig bewachten Teller Kekse, dann schlägt er zu und verschlingt, was er sieht.
Es ist wahr: Supermarktselfie in Christmasdekor am 25. September
Das gute Gefühl einer harmlosen Welt
Wahrscheinlich trichtern zertifizierte Businesscoaches in Seminaren den Marketingleitern und Salesmanagern der Supermärkte ein: sei wie Krümelmonster! Der Kunde ist dein mäßig bewachter Teller Kekse! Gib ihm in den letzten Septembersonnentagen schon das gute Gefühl, in einer harmlosen Welt zu leben. Sing ihm ein Weihnachtslied, dann fühlt er sich sicher. Dann schnapp zu und füll seinen Einkaufskorb mit Christmas-Schnickschnack. Marzipanglöckchen, verzuckerte Dominowürfel, Sterntaler. Geborgenheitsgebäck: Schon im Nachhall des Spätsommers daran zu erinnern, dass eine Sehnsucht in uns allen wohnt, ist perfide. Leise rieselt das Salz auf die Familienwunde. Da wird jeder Kunde schwach.
Auf messerscharfen Kufen
Julia erzählt mir von ihrer Familienwunde und der Jugend in Bremen: als Kind ukrainischer Eltern kommt sie Mitte der 90er Jahre nach Deutschland und findet im Gymnasium keinen Anschluss. In der fremden Sprache und den anderen Sitten findet sie sich nicht zurecht. Sie erlebt sich vor einer harten, eisigen Wand aus Zurückweisung und Ausgrenzung. Empfindet Scham und Minderwert. Als sie es nicht mehr aushält, kippt sie die Wand um, sie geht zum Eiskunstlauf. Verwandelt die undurchdringbare Barriere in das Terrain ihrer Selbstverwirklichung. Auf der spiegelglatten Fläche, an der ihre Sehnsucht, dazuzugehören, abprallte, gleitet sie mit messerscharfen Kufen und hebt zu artistischen Sprüngen ab.
Ein Glas Chianti auf den Äquator
Albert berichtet von seiner Zeit als Student in Tübingen, Mitte der 70er Jahre. Er macht sich auf nach Norddeutschland, um ein Praktikum in einer psychiatrischen Anstalt zu absolvieren. Mit seinem VW-Bus schafft er es bis Hildesheim, dann wird er müde, fährt in einen Feldweg, parkt den Bus und legt sich nach einem Glas Chianti eine Runde auf der Campingmatratze schlafen. Wach wird er von Gebrüll, schreckt hoch und blickt in ein vermummtes Sondereinsatzkommando, das mit Maschinengewehren seinen Bus umstellt. In der Nacht zuvor hat die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführt. Man wollte ausschließen, dass Albert etwas damit zu tun hat. Mit genügend Traumapotenzial für eine Bewerbung als Patient fährt Albert die letzten Kilometer in die Psychiatrie. Der Anstaltsleiter empfängt ihn bestgelaunt und führt ihn durchs Haus. Stellt ihn hier und da vor, dann zeigt er ihm den Äquator. „Ich bin der Äquator“, tönt ein hochgewachsener Mann mit langen Armen. Zum Beweis zieht er mit einem Küchenmesser einen blutigen Kreis um seinen Unterarm. Dann kommt Personal, befreit den Äquator von seiner Waffe und nimmt den Anstaltsleiter fest. Der war nur ein Patient mit viel Phantasie.
Weihnachten: Endlich Zeit für gute Gespräche Foto: Martin Peterdamm
Dum di dum di dum ist nur der Anfang
Julia und Albert gehören zu einer Gruppe von 14 Leuten, die mir ihre Geschichten erzählen, damit ich sie zu einer Symphonie verdichte. Am Ende treten wir alle gemeinsam auf, mit einem besonderen Hamburger Orchester. Die Geschichten bringen Melodien hervor, die über Krümelmonsters “Dum di dum di dum” weit hinausgehen. Ob nach ihrem Erklingen Kekse auf dem Teller fehlen? Ob die Erzählungen alles verschlingen? Wird man sich als Publikum wie ein mäßig bewachter Teller fühlen? Oder rieselt Balsam auf die Familienwunde? Zu diesem Zeitpunkt weiß das noch nicht einmal das Christkind. Es ist ihm zu früh.
Ich freue mich das ganze Jahr auf Ende September, weil ich Lebkuchen so liebe 😀!