Bevor es losgeht, mache ich es wie Trump: erstmal sich selbst auf die Schulter klopfen. Sonntagskind kommt seit drei Jahren zuverlässig. Hier wird delivered, Leute. Performance geht vor. Ob aus Bremen, Berlin, Brake oder Bratislava: Sonntagskind liefert pünktlich jeden Sonntagmorgen um fünf Minuten nach Fünf genmanipulierte Frühstücksliteratur auf deinen Tisch. In meinem Literatenkittel schnippele ich solange an der DNA des Textes rum, bis er schmeckt. Der Inhalt ist mir egal. Nestlé ist ein humanistisches Hippie-Unternehmen gegen meine gnadenlose Kolumnenküche. Heute allerdings liegt Konfettifeeling in der Luft! Es ist nämlich Sonntag, der 30. Juni, mein Privatgeburtstag.
Wellen des Wehleids
Immer, wenn ich Geburtstag habe, frage ich mich, was meine Aufgabe fürs kommende Lebensjahr sein könnte. Heute finde ich die Antwort im Garten, in den blühenden Nachtkerzen und den wild treibenden Zucchini. Im Jazzgesang der Amsel und im Seufzen des Taubenpärchen, das im Efeudickicht sein Nest baut. Ein Seerosenkelch öffnet sich langsam und ich stelle fest: die Klage liegt mir nicht. Auf Missstände in unserer Gesellschaft mögen andere hinweisen, da gibt es Profis. Ich denke, wer ein Inhaltsverzeichnis über die angeprangerten Missstände in unserer Gesellschaft erstellen will, hat bereits jetzt einen Haufen Arbeit. Trotzdem schallt es „Das reicht noch lange nicht!“ und „Alles ist sehr schlecht!“ von den linken und rechten Rändern der Gesellschaft, somit bleibt der Strom der Kritik ein lebendiges Gewässer.
Sumpf der Sorglosigkeit
Aber dort im Schatten, was ist das für eine erbärmliche, modrige Pfütze, dieser verkümmerte Pfuhl? Das, liebe Freundinnen und Freunde, ist der Tümpel der Zuversicht. Um ihn will ich mich kümmern, ihm widme ich all meine Fürsorge. Schließlich bin ich an einem Sonntag zur Welt gekommen – einem Tag, an dem man ausgeschlafen spazieren geht und die Nachbarn freundlich grüßt.
Diesen Weiher will ich pflegen, das Schilf der Hoffnung aus ihm wachsend nach den Sternen greifen lassen. Kaulquappen mögen in ihm den Weg vom Wassertier zur Amphibie gehen, und dann wohlgenährt die Botschaft des Selbstvertrauens über die Auen tragen.
Kunst im öffentlichen Raum
Bevor wir aber das triste Gewässer mit guter Laune fluten, ein schlauer Blick über den großen Teich: Ein hochbegabter Politclown hat es geschafft, dass die US-amerikanische Wählerschaft ihm, dem nachgewiesenen Lügner und verurteilten Betrüger, das höchste Amt anvertrauen will. Dieses Kunststück verdient Respekt – denn ein Kunststück ist es. Donald Trump ist der größte Performancekünstler der Welt. Sorry, Marina Abramović.
Interessieren sich die meisten Menschen also gar nicht so sehr für Politik, sondern nur für eine gute Show? Ja, das ist die Wahrheit! Im European Song Contest geht es auch schon lange nicht mehr um den besten Song, sondern um die beste Performance. Es ist so.
Emotions-Ebbe
Wir Deutschen haben viel zu lange gehadert mit dem Entertainment. Wäre der kleine Österreicher mit dem Chaplinbärtchen nicht so ein guter Entertainer gewesen, die Nachkriegszeit wäre eine andere gewesen.
Ob wir auch dann immer noch in diesem keimfrei gechlorten Kollektivbad der Nüchternheit planschten? Wir sind anders als die Amerikaner: Bevor wir Deutschen jemanden an die Spitze unseres Staates lassen, versichern wir uns, dass er nicht vom Beckenrand springt. Liegen keine Ambitionen vor, irgendjemanden zu begeistern, umso besser. Je uninspirierter desto kompetenter, bildet sich der verängstigte Volksgeist ein.
Ich empfinde das als vorgestrig. Wir nehmen nur ernst, wer keine Emotion zeigt – das ist doch nicht mehr zeitgemäß. Auch außerhalb der Politik, selbst in Opern und Theatern herrscht strengstes Amüsierverbot.
In der Schlagershow, im kommerziellen Musical, in Comedy und Varieté gibt‘s zwar was zu lachen, aber dort achtet man auf penible Einhaltung der Bedeutungsvermeidungsvorschrift.
Bad vibes, no fun
Tiefe Wasser sind still, reißende Ströme sind seicht.
Beides zusammen: ausgeschlossen. Warum kann man nirgendwo schlechte Laune haben und es ist trotzdem flach?
Es muss doch möglich sein, auf Tiefgang zu verzichten und dennoch keinen Spaß zu haben!
Wo sind die innovativen Schöpfer, die hirnlosen Unfug mit heiligem Lebensernst verschmelzen?
Möge aus dem Tümpel der Zuversicht bald die Fontäne des Leichtsinns quillen. Wir brauchen sie. Ich wünsche einen herrlichen Sonntag!
Euer Mark
Neu erfundene Wörter im 148. Sonntagskind: Literatenkittel, Konfettifeeling, Kolumnenküche, Privatgeburtstag, Bedeutungsvermeidungsvorschrift.
Jeden Sonntag triviale Hochkultur frei Haus? Nur mit dem Sonntagskind!
Mach mir eine Freude: erzähl anderen vom Sonntagskind:
Ich nehme heute Glückwünsche an: <3
Wer ein paar Euro für den Gärtner über hat, her damit!
Ein Prosit dem Meister der geistreichen Fabulierkunst!
( Das Glas Champagner habe ich dir überwiesen…)
Tanti auguri da Jürgen e Marita, wieder mal ein Vergnügen dich zu lesen!!!