Über die Leni Riefenstahl in uns
Happy Donnerstag Nr. 1: Peter Pranges „Eine Familie in Deutschland“
Geschichte hat mich in der Schule immer zu Tode gelangweilt. Was der bärtige Mann in der Cordhose und dem hässlichen Pullover vor der Klasse erzählte, hatte nichts mit meinem Leben zu tun. Das Mittelalter, die Perserkriege, die Räterepublik: da rein und da raus. Ein bisschen was ist hängengeblieben vom Nationalsozialismus. Schließlich waren meine Großeltern live dabei. Ansonsten: Kein Interesse.
Später bekam ich eine abgenudelte VHS-Kassette der NSDAP-Parteitagsdokumentation „Triumph des Willens“ von Leni Riefenstahl in die Hände. Der verbotene Propagandafilm der Nazis hat mich fasziniert. Wenn man studieren will, wie Manipulation funktioniert, wie kollektive Verführung geht: Triumph des Willens zeigt es. Ich bin sicher, mit diesem Film hätte der Cordhosenmann mich rumgekriegt. Und den Rest der Bagage, die ihre erschlafften Gesichter in die Hände ihrer aufgestützen Ellenbogen ablegten, auch. Der glücklose Geschichtslehrer hat aber leider für sich behalten, was an Geschichte angeblich so spannend war.
Trotz meiner Ahnungslosigkeit war ich bis zuletzt sicher, ich wäre im Dritten Reich auf der richtigen Seite gewesen, mindestens wäre ich ein Stauffenberg gewesen. Seit ich „Eine Familie in Deutschland“ lese, ist meine moralische Gewissheit erschüttert.
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Hier lese ich beim morgendlichen Yoga-Workout beide Bände von Peter Pranges „Eine Familie in Deutschland“. Das Bild ist ein kleiner Hinweis auf eine zukünftige Kolumne mit einem kritischen Blick auf Selbstoptimierung.
In zwei Bänden erzählt Peter Prange, der „Helmut Kohl der Belletristik“ (Prange über sich selbst) die Geschichte von drei Generationen einer Zuckerfabrikantenfamilie im Wolfsburger Land, die damit klarkommen muss, dass Adolf Hitler in ihrer Heimat die Autostadt Wolfsburg errichten will. Von dort spannt sich das Handlungsnetz über Berlin, Paris, Rotterdam und Kabul – und all das ist wahre Geschichte, denn Peter Prange ist Historiker.
Ich lese also ein verführerisches Drama, kann nicht anders, als mich in die kompassklare Charly, die hedonistische Gilla und die liebeswunde Edda zu verlieben, um den herzensheilen Benny zu fürchten und den seelenschwachen Horst zum Teufel zu wünschen – und lerne nebenbei, was wirklich passierte bei der Wannseekonferenz. Weil der diabolische Erzähler mich so leidenschaftlich Anteil nehmen lässt, dass ich gar nicht anders kann, als aus Eigeninteresse die geschichtlichen Fakten zu verstehen. Und vor allem: das Verständnis ins Gefühl auszudehnen und der Naziprominenz so nahe zu kommen, dass sie ihre Schwarzweißbildigkeit verlässt und in meiner Seele nach Resonanz ruft.
Denn in mir lebt auch eine Leni Riefenstahl, die für die Durchsetzung ihrer künstlerischen Projekte beide moralische Augen zuzudrücken bereit ist. Und ein Parteisoldat Horst Ising, der das Gefühl der Bedeutungslosigkeit in seinem Leben durch die Symbiose mit einer Idelogie übertüncht, die ihn ein herzloses Monster werden lässt. In mir schlummert eine niedergeschlagene Mutter, die angesichts der Ohnmacht dem Elend gegenüber zu Betäubungsmitteln greift. Und auch ein süchtiger Göring, der im Rausche seines glanzpolierten Egos nicht merkt, zu was für einer mörderischen Witzfigurer wird.
Es ist allein meine Entscheidung, wie bedeutend diese Figuren in meinem Leben werden – und wofür sie zuständig sind. Füttere ich sie? Lasse ich sie verhungern? Erziehe ich sie? Meine innere Riefenstahl kann ich gut gebrauchen, wenn mich wieder mal der Zweifel lähmt. Dann ist sie es, die dafür sorgt, dass ich den Arsch hochkriege und mich mit Zuversicht ans Notenblatt setze. Wenn ich mich klein und unbedeutend fühle, ist so ein innerer Göring ein guter Helfer: selbstverliebt, dauerhigh und frei von Bedenken nimmt er mir die Scheu im Umgang mit geschickten Verhandlungsprofis, wenn es zum Beispiel um Gagen geht.
Es ist meine Entscheidung, was die inneren Barbaren dürfen und was nicht. „Eine Familie in Deutschland“ erinnert daran, dass das Schicksal unserer Gesellschaft in den Händen der Politiker allein nicht liegen darf – sondern vor allem in unseren. Und dass wir es sind, die dafür sorgen, ob wir in einer Demokratie leben – oder eben nicht.
Peter Pranges Facebookseite erinnert mich manchmal an ein Boulevardmagazin. Mit einer Tiefe und Lebensliebe, von der weder Gala noch Bunte etwas ahnen.
Es ist faszinierend, wenn man erkennt, dass in jedem von uns ein manipulierbarer potentieller Nazi steckt. Was faschistische Systeme so erfolgreich macht ist der Wunsch des Menschen dazuzugehören und in der Gemeinschaft stark zu sein. Das macht uns anfällig dafür, das Gewissen auszuschalten oder uns die Welt so zu malen, dass die anderen eben die Bösen sind und unseren Weg zum Guten behindern.
Wer glaubt, er wäre damals Widerstandskämpfer:in gewesen, hat mit seiner Selbstreflektion noch nichtmal angefangen. Kaum eine/r von uns ist wirklich Held. Was uns treibt ist auf der basalsten Ebene die Selbsterhaltung.
Daher ist es immer wichtig, bei den zentralen Werten wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Humanität stabil zu bleiben. Keine Ideologie darf stärker als das sein.