Einmal spielte ich in einer Kneipe im Bremer Umland. Ich war Anfang 20 und begleitete eine Sängerin am E-Piano, ihr Freund spielte Jazzgitarre. Wir hatten sogenannte Standards im Programm, also Lieder wie „Moon River“, „My way“ oder „Summertime“. Andere Sängerinnen arbeiteten in den beginnenden Neunzigern mit einem großen Repertoire an Emotionsmimik: mit den Händen in der Luft die Melodien nachzeichnen und bei hohen Tönen den Kopf in den Nacken werfen, während mit der freien Hand imaginäre Verehrer weggeschoben werden.
Unsere Sängerin tat, wenn sie sang: gar nichts. Sie stand. Sicher und fest. Außerdem wollte sie sich die englischen Texte nicht merken. Es gelang ihr einfach nicht, eine Beziehung zu den Worten aufzubauen. Was ihr aber leicht fiel, war so zu singen, dass es klang wie Russisch. Das hatte natürlich was: amerikanische Klassiker mit vermeintlich russischen Texten.
Das Auge diktiert dem Ohr die Musik
Dazu erlaubte ihre regungslose Physiognomie dem Betrachter, sie in der Taiga zu imaginieren oder sich vorzustellen, ihr Vater würde missliebige Revoluzzer in Gulags verbannen. Ihr Freund, ein hochgewachsener Mann – immer in Tweed-Anzug, Seidenhemd und Krawatte, sah mit seiner Filmemacherbrille unter dem schwarzen krausen Haar aus wie ein New Yorker Intellektueller. Er wirkte wahnsinnig authentisch mit seiner halbakustischen Gitarre, wie ein studierter Könner. Er spielte allerdings nicht wirklich, er kannte nämlich keinen einzigen Akkord. Er dämpfte die Saiten mit den Fingern so geschickt ab, dass keine Töne kamen, nur swingendes Schrabb-Schrabb, das nach Jazz klang. Er bewegte dabei seine langen, schlanken Finger auf dem Griffbrett und täuschte die Kompetenz eines Virtuosen vor. Manchmal diktiert das Auge dem Ohr die Musik.
Peinliche Stille
So saßen wir also in einer Landkneipe an einer Bundesstraße und versuchten ein Konzert. Vieles ging schief. Mal wollte man keinen gemeinsamen Anfang finden, mal war ein Tempo nicht zu halten, oder man verlor den gemeinsamen Rhythmus. Das Schlimmste waren die unsicheren Enden, nach denen peinliche Stille entstand. Das war den Leuten aber egal, es hörte sowie keiner zu. Außer der Mann von der Zeitung.
Ein weltveränderndes Jahrhundertkonzert?
Wahrscheinlich gab es gerade keine Sturmschäden, über die man berichten konnte. Kein Schützenfest, kein Doppelkopfturnier, kein defekter Fahrkartenautomat am Bahnhof. Also kam die Lokalredaktion zu uns. Ich hätte dem Redakteur nicht übel genommen, wenn er unsere dilettantische Performance unter der Überschrift zusammengefasst hätte: „Überhebliche Städter glauben, uns mit ihrem Quatsch verarschen zu können“. Stattdessen belohnte der Rezensent unser unterprobtes Scheitern mit einem Bericht, über den sich Simon Rattle nach einem Konzert mit Mahlers 2. Symphonie gefreut hätte: Die Besprechung unserer Kneipenmucke vor angetrunkenen Landwirten las sich wie die hymnische Kritik eines weltverändernden Jahrhundertkonzerts. Warum?
Keine Austern, nur Kübel mit Bockwürsten
Ich kann mir das nur so erklären: der Journalist träumte wahrscheinlich davon, als Feuilletonchef einer bedeutenden Zeitung nach Bayreuth geschickt zu werden, um das irisierende Timbre der Holzbläser unter dem Dirigat einer neuen internationalen Pulthoffnung zu feiern. Er würde den ätherisch schwebenden Streicherklang loben, dem freilich eine etwas differenziertere Textur gut stünde. Die Sopranistin vergöttern, die mit einem jenseitigen, von existenziellem Drama bewegten Edeldiskant nichts weniger als eine endgültige Isolde definiert. Oder auch mal einem selbstverliebten Bariton einen Denkzettel verpassen: „…erweist sich trotz zu sehr gestemmter Höhen und einem schwachen Legato als durchaus hörenswert.“
Er wollte wahrscheinlich dabeisein: bei den glamourösen Premieren, den Tempelfesten der Hochkultur. Der Fluss des Lebens hat ihn aber zwischen Syke und Bassum stranden lassen. Nicht ein einziges Opernhaus, dafür tausend Scheunen. Keine Etageren mit Schnittchen oder gar Austern, niemals Schaumwein. Nur Kübel mit Bockwürsten. Fassbier. Er wollte hören, was die anderen nicht hören und seine einzigartige Wahrnehmung mit der Welt teilen.
Im Falle unseres fadenscheinigen Acts in einer norddeutschen Dorfkneipe ist ihm das gelungen. Was er hörte, hörte sonst keiner. Alle anderen sahen nur ein paar Bekloppte aus der Stadt mit falsch gespielten Evergreens. Der Kritiker aber jubelte:
„Klang- und Farbenskala von seltener Ausgewogenheit. Ein Trio, dem jeder Dogmatismus abhold ist, unterlegt dem Konzert eine fein dosierte, allmählich ansteigernde Dramatik.”. Was für eine herrliche Beschönigung, was für ein unschuldiger und liebender Blick auf eine Darbietung, die ansonsten nur Kopfschütteln oder allenfalls Achselzucken ausgelöst hat. Ich finde, eine solche Stimme gehört gepflegt. Eine Stimme, die die Poesie entdeckt, wo andere nur Unfug sehen. Die sich begeistern lässt, wo andere erstarren.
Meeega lustig!!!