Neulich denke ich: es muss dringend ein Dokumentarstummfilm gedreht werden! Eine herzerschütternde Geschichte in Bildern, zu der ich symphonische Musik komponiere. Heureka! Sofort muss es losgehen. Ich bestelle bei Amazon: Die Kunst der Filmregie, eine Handvoll Drehbücher von Fritz Lang und einen Leitfaden für Amateurfilmer. Am unteren Bildschirmrand lange ich nochmal hin, wo „Verwandte Produkte zu diesem Artikel“ steht. Ein paar hundert Euro leichter, empfange ich zwei Tage später eine Schubkarrenladung mit Büchern, die jetzt einen ansehnlichen Regalmeter bilden. Zwei von den Büchern taugen was. Hätte ich nur die Buchhändlerin Malin Schwerdtfeger schon gekannt! Aber der Reihe nach:
Annabella (Name v. d. Red. geändert) ist Schauspielerin. Heute Abend wird sie auf einer Podiumsdiskussion eine Wissenschaftlerin spielen. Das Publikum soll erst am Ende mitbekommen, dass sie „nicht echt“ ist, dass es sich bei dem Expertengespräch in Wirklichkeit um Theater handelt. Ich will ihr ein Premierengeschenk machen und frage in der Buchhandlung in der Nachbarschaft. „Haben Sie etwas über Hochstaplerinnen?“ Die Dame hinter dem Büchertisch will wissen, warum mich das interessiert. Sie bringt mich zum Reden. Über die vorgetäuschte Diskussionsveranstaltung, über Annabella, die einem ahnungslosen Publikum weismachen wird, sie sei eine promovierte Soziologin. Währenddessen zapft der Buchhändlerinnenblick mein Unbewusstes an. Ich bilde mir ein, dass blitzschnell mein Leben gescannt wird. Horrende Datenmengen laufen vor dem geistigen Auge der Lesespezialistin über einen geheimen Bildschirm. Plötzlich bewegt sie sich an mir vorbei durch den Laden, ich folge ihr ganz automatisch.
Malin Schwerdtfeger in der Buchhandlung „Hacker und Presting” in Berlin-Charlottenburg.
Sie zieht ein orangefarbenes Büchlein aus dem Regal: „Das ist nicht genau, was Sie suchen, aber es passt.“ Sie berichtet von ihrem Stiefvater, der als Kabarettist auftrat. Eine Münchner Gräfin der 1920er Jahre habe ihn zu einer Revue inspiriert. Die Gräfin heißt Franziska zu Reventlow und schreibt in „Von Paul zu Pedro“ über ihre zahllosen Amouren. Damit landet die Buchhändlerin mit dem siebten Sinn einen Geschenkevolltreffer, wie es kein Algorithmus dieser Welt vermag: woher weiß die Frau mit den hellblonden Superantennen, dass die Aufzeichnungen der maßlosen Adeligen dazu taugen, Annabella an den Sessel zu fesseln? Hätte ich ihr gesagt, dass Annabella den Hotspot ihres Telephons „Madame Bovary“ nennt, nach Flauberts luxussüchtiger Romanfigur, hätte sie drauf kommen können. Aber dazu kam ich gar nicht.
Tippe ich bei Amazon „Hochstaplerinnen“ ins Suchfeld, bekomme ich tatsächlich eine Chronik betrügerischer Frauen angeboten. Das ist schon mal ein inhaltlicher Volltreffer – aber ist es auch ein ästhetischer? Ein literarischer Hauptgewinn? Die Eroberung von mehreren Stunden Aufmerksamkeit, ein persönlicher Lesehit? Wird das ein Lieblingsbuch? Siehe oben, der Regalmeter.
Annabella mit ihrem neuen Buch.
Malin Schwerdtfeger weiß viel besser als ich, dass in diesem langweiligen Hochstaplerinnen-Sachbuch, das ich imaginiere, nur ein kleiner Kick wohnt, allein wegen des schmissigen Titels. In ihrer Empfehlung aber wohnen Einfühlungsvermögen, Neugier und riesige Literaturkenntnis. Nach einem Speed-Check ästhetischer Neigungen formuliert sie einen Lesevorschlag, der sitzt. Malin sagt, ihr Freund meint, unter Indianern bekäme sie den Namen „Die Bücher aus Herzen liest“. Ich finde, es sollte dringend ein Dokumentarstummfilm über Malin Schwerdtfeger von der Buchhandlung Hacker und Presting gedreht werden. Die Musik dazu: hymnisch!
Wiedermal ein so schöner Artikel. Ich denke auch, weder ein Algorithmus noch KI werden diese besonderen Fähigkeiten nachahmen können. ( Hoffentlich;-))Macht Lust, besagter Buchhandlung einen Besuch abzustatten.