Weltrepertoire des Gewöhnlichen
Sprachblüten aus der Ära der Phasen
Verehrte Tausendschaft meiner geliebten Lesenden,
zum 4. Advent hier das 220. Sonntagskind – am Ende mit einer prima Idee für Weihnachtsgeschenke im Raum Bremen. Ich wünsche Euch die beste Zeit des Jahres! Neulich sah ich ein Plakat für ein Weihnachtskonzert:
„Weihnachtskonzert mit bekannten Stücken aus dem Weltrepertoire.”
Weltrepertoire – ich liebe dieses Wort mit Wucht! Klingt auf jeden Fall besser als „Jingle Bells, Last Christmas und Feliz Navidad“. Aber ist das schon …
semantische Hyperinflation?
„Revolution!“ – las ich kürzlich in einer Mail. Es war nur das Software-Update meines Musikprogramms. Wer heute eine Meinung hat, ordnet mindestens etwas ein und „Paradigmenwechsel“ bedeutet: neue Power-Point-Folie. Diese kleine Beobachtung an sich ist im Sprachgebrauch der Wortentwerter schon mindestens ein Narrativ.
Dabei hatte selbst Picasso keine blaue Ära, sondern nur eine solche Phase. Wer „Phase“ meint und „Ära“ sagt, nennt den Blauen Spätburgunder aus dem Discounter auch einen Jahrhundertwein – und die Songliste mit den Weihnachts-Standards eben „Weltrepertoire“.
Raunende Referenten
Als mir der Verwaltungdirektor eines berühmten deutschen Wichtig-Theaters nach der Vertragsunterzeichnung das Du anbot, raunte er mir beim Handschlag in der ledergepolsterten Tür seines Büros zu: „Wir machen hier Welttheater!“
Damals war die Welt noch nicht so eine gigantische Bühne. Dass das Theater in der Krise ist: Kein Wunder, es hat keine Chance bei den shakespearehaften Figuren, die Tag für Tag den Vorhang hochgehen lassen und einen Showklassiker nach dem anderen erfinden:
Der verurteilte Immobilienmogul mit dem Riesenego eines Kleindarstellers in: Broadway der Macht.
Der russische Diktator, der der ganzen Welt weismacht, dass er eigentlich ein ganz Lieber ist:
Fakten toppen Fiktion
Unter meinen sogenannten Freunden auf Facebook gibt es welche, die ganz sicher sind, dass die Nato am Ukrainekrieg schuld ist. Wer braucht da noch Theater? Oder Songs? Ich habe 2025 satirische Songs geschrieben – Schnapsidee! Das Grauen der Wirklichkeit ist nicht zu überspitzen – ich schreibe jetzt nur noch Liebeslieder. Schnaps gibt es mittlerweile auch alkoholfrei: Der Gin ohne Kick kostet genau so viel wie der Wacholderbrand mit Umdrehungen. Ich hatte mir neulich in einer Hotelbar drei alkoholfreie Negroni eingefüllt – und bekam einen veritablen Phantomschwips, da kommt man auf Ideen: Ich werde Ginfluencer! Aber am nächsten Morgen: kein Kater.
Nordrausch
Dass eine litauische Katze jetzt das Schicksal des öffentlichen Rundfunks in dem sympathischen Land im Nordosten entscheidet – episch! Ist das litauische Parlament besoffen, dass es wirklich darüber abstimmt? Der Schnapsfaktor in der Gesellschaft steigt, je näher man dem Polarkreis kommt. Mit den langen, dunklen Nächten kommt der Schmerz, kommt die Schmach, kommt der Schnaps.
Nebel im Hafen
So nah am Polarkreis wie jetzt habe ich jedenfalls noch nie gewohnt. Auf meinem Hausboot in Ueckermünde liege ich ganz allein im Hafen. Alle anderen Boote wurden aus dem Wasser geholt, kein Mensch weit und breit, nur der Nebel, der Deich und der Biber. Selbst Ingo, der Hafenmeister hat sich gestern in die Weihnachtszeit verabschiedet und kommt nicht mehr wie sonst auf einen Tee an Bord.
Wenn es nicht so ein Klischee wäre, es könnte romantisch sein: Das Feuer lodert im Holzofen, der einsame Komponist, im Kerzenlicht am Flügel, schreibt seine – Achtung: Jahrhundertmelodien aufs vergilbte Notenpapier und sublimiert den Lärm der Welt. Aber genau so ist es!
Ich habe mir einen Riesenhaufen „Arbeit“ eingebrockt, als ich meinem Freund Peter Prange, dem hardest working man in Literaturbusiness, vorschlug, auf der Grundlage seiner Romanhexalogie über Deutsche Geschichte einen gemeinsamen Abend zu entwerfen. Jetzt habe ich den History-Salat: In „Deutschland, mon amour“ liest der Titan des historischen Romans aus seinen wanddicken Büchern und ich komponiere mich dazu durchs Zwanzigste Jahrhundert. Erfinde europäische Walzer, germanische Fanfaren, neudeutsche Kellerhymnen. Was das für eine Art Repertoire ist, das dabei herauskommt? Genau, Sie wissen es …
Neu erfundene Wörter im 220. Sonntagskind:
Wortentwerter, Wichtig-Theater, Phantomschwips, Ginfluencer, Schnapsfaktor, wanddick, Kellerhymne.
AUS DER KAJÜTE DER ERKENNTNIS:
I. Fürs Welttheater ist selbst der Kosmos provinziell.
II. Weihnachtslieder wirken, jenseits von geschmacklicher Präferenz.
III. Wer „Narrativ“ sagt, meint: bitte nicht widersprechen.
Kleine Weihnachtsidee:
Am Freitag, 16. Januar um 19.30 Uhr feiern Peter Prange und ich Premiere mit „Deutschland, mon amour” – in Bremens schönstem Konzerthaus, dem legendären Bremer Sendesaal. Man kann die Tickets ausdrucken, zu einer Rolle drehen und ein Geschenkband drum machen:
DEUTSCHLAND, MON AMOUR
Eine literarisch-symphonische Liebeserklärung
mit PETER PRANGE und MARK SCHEIBE
Was passiert, wenn ein Geschichtenerzähler auf einen Komponisten trifft, der in Tönen spricht statt in Worten? Eine symphonische Lesung – Geschichte mit Gänsehaut!
Dies ist ein Abend, wie es ihn noch nicht gab: Peter Prange – Erfolgsautor von „Unsere wunderbaren Jahre“ und „Das Bernstein-Amulett“, führt uns szenisch durch das gesamte deutsche 20. Jahrhundert. Ein Drama zwischen Reichsgründung und Euro, Größenwahn und Abgrund, Weltkriegen, Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung. Eine Liebeserklärung an ein Land voller Widersprüche.
Mark Scheibes kongenialer Soundtrack bringt diese Liebesgeschichte zum Klingen. Am Flügel auf der Bühne live gespielt, durch symphonische Einspielungen ergänzt und durch alle Stile der Zeit wandernd – von Walzer über Swing und Schlager bis zu Techno und Filmorchester-Sound.
Literatur trifft Musik, Herz trifft Kopf, Vergangenheit trifft Gegenwart.
DEUTSCHLAND – MON AMOUR ist ein Abend, der Geschichte zum Erlebnis macht. Spannend, unterhaltsam, emotional.
16.Januar 2026, Sendesaal Bremen, 20 Uhr
Kleine Weihnachtsbitte:
Seit viereinhalb Jahren suche ich jede Woche nach Gedanken, die ich in eine unterhaltsame und trotzdem nicht völlig triviale Form bringen kann, um ein Publikum mit Geschmack und Eleganz zu unterhalten, von dem ich glaube, dass es genau das liebt. Diese wöchentliche Gewohnheit ist ein Teil meines Lebens geworden. Es macht mich immer wieder glücklich, zu hören, wenn ich jemandes Tag ein bisschen schöner gemacht, ein Lächeln an den Frühstückstisch gezaubert oder einfach die Laune verbessert habe.
Das tut gut und macht mich fröhlich. Was darüberhinaus dieser Kolumne hilft, aus der Flut der täglichen Veröffentlichungen herauszuragen: Likes und Kommentare. Macht Ihr mir die Freude? Danke!
Weihnachtsritual:
Wie Podcastqueen Bettina Rust es schafft, ein super lockeres Gespräch zu führen, in dem sich alle wohl fühlen – und trotzdem deep talk anstiftet, beeindruckt mich jedesmal. Dieses Jahr war die singende Schauspielerin Andreja Schneider im Studio, hört Euch das gerne an:










Lieber Mark,
auch wir im Sendesaal freuen uns auf den 16.1., aber schon in 19.30 Uhr!
Beste Grüße
Rainer
Welttheater, mon amour!