Verehrte Lesende, geliebte Sonntagskindler und -innen, betörend stilerfüllte Menschen, die Ihr mir jeden Sonntag Euer Mailpostfach anvertraut,
ich meine es ernst: In dieser Zeit, in der 10 Millionen Deutsche die Führung des Staates planlosen Pöblern anvertrauen wollen, in der sich ein Turbo-Egoist mit seiner barbarischen Idee vom Miteinander an die Spitze der Macht rüpelt, in der ein Killermilliardär sein Nachbarland terrorisiert und der ganzen Welt beweist dass er machen kann, was er will, weil ihn keiner daran hindert, brauchen wir vor allem eins: Stil.
Talk like a Lord
Mein Freund Edward hat in Oxford studiert. Dort gehört es zum guten Ton – oder besser: zur Ausbildung, regelmäßig Tischreden zu halten. Wer der Tafel seine Worte schenkt, spricht nicht einfach, sondern zeigt Haltung: Stilistisch, moralisch und körperlich. Was für die Briten eine rhetorische Fingerübung ist, wäre in deutschen Fachabteilungsräumen wahrscheinlich ein Grund für eine Dienstaufsichtsbeschwerde.
Tischreden sind das Gegenteil von spontaner Meinungsäußerung. Sie verlangen Distanz. Vielleicht liegt darin schon ein Hinweis auf das, was wir als Stil empfinden: Etwas fühlen – aber nicht sofort alles sagen. Erst im Oberstübchen Ordnung schaffen, bevor der Schnabel aufgeht. Und dann so sprechen, dass man sich selbst ein bisschen der Lächerlichkeit preis gibt – als ethische Ausgleichszahlung zum exponierten Status, den man durch die Rede eingenommen hat. Ich schreibe hier schließlich auch nur so oberschlau daher, weil ich nie darüber hinweg gekommen bin, dass ich kein Abitur habe.
Never complain? Oh please!
Edward hat mir einmal das Lebensmotto der britischen upper class erklärt, das von den älteren royals noch vorgelebt wird : „Never complain, never explain.” Also: Nicht jammern, nicht rechtfertigen. Wer Stil hat, leidet schweigend. Auf den ersten Blick wirkt das vornehm – wie ein Cocktailkleid, wie ein Smoking für die Seele. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dieses innerliche Totstellen aber als emotionales Asbest: Es dämmt jegliche Wärme weg, vergiftet langsam die Atemwege und verhindert so einen wahrhaftigen Austausch.
Dabei ist Stil doch eigentlich das Gegenteil von Kälte. Wer nie klagt und nie erklärt, zeigt keine Contenance, sondern entzieht sich der Anteilnahme. Und damit dem Menschsein. „Man kann nicht nicht kommunizieren.”, wusste der weltreisende Philosoph Paul Watzlawick, für den die Fähigkeit zur Rede die reine Lebenskunst war. Wer emotional auf Null geht, erzeugt kein Gleichgewicht – sondern ein Vakuum. Und ein Vakuum ist nicht edel, sondern leer.
Lücke mit Haltung
Ist Stil also Rücksichtnahme? Die Fähigkeit, sich selbst zu zeigen, aber niemanden zu überfahren? Vielleicht liegt Stil in genau dieser Balance: Die Welt sehen, ohne sich selbst in der eigenen Besonderheit zu vergessen. Und sich selbst in seiner Deformiertheit zeigen, um die Welt zu amüsieren.
Die britische Schauspielerin Aimee Lou Wood (White Lotus) schämte sich zeit ihres Lebens für ihre chaotisch gewachsenen Zähne mit der Riesenlücke vorne. Als sie den Entschluss fasste, ihren Makel in ein Alleinstellungsmerkmal zu verwandeln, nahm ihre Karriere Fahrt auf. Ich finde diesen Move ausgesprochen stilvoll – durch ihre Selbstakzeptanz verwandelte sie sich in eine Ikone.1
Braucht Stil also Mut? Stil hat, wer sich interessiert. Wer zuhört. Wer fragt, ohne zu durchleuchten. Wer schweigt, ohne zu verstecken. Wer sich bewegt, ohne andere zu verdrängen. Wer führt, ohne zu dominieren. Wer folgt, ohne sich zu unterwerfen.
Der Charme des Charakters
Stil ist keine Frage der Kleidung, sondern des Klimas. Man erkennt ihn an der Temperatur zwischen Menschen. Wer Raum lässt, ohne zu verschwinden. Wer Nähe zulässt, ohne Besitz zu ergreifen. Wer weiß, wann man schweigt – und wann man aus voller Kehle singt, lebt mit innerer Führung – und mit Stil.
Stil ist, wenn du den Raum betrittst und die anderen sich selbst darin etwas größer fühlen.
Stil ist kein Style
Natürlich kann man Stil auch mit Manieren verwechseln. Oder mit einer gepflegten Erscheinung, einem Instagram-Account in Beigetönen mit einer Seriphenschrift. Aber ohne innere Haltung ist das nur Kulisse. Stil ist nicht, wie wir wirken wollen. Sondern wie wir wirken, wenn wir niemandem etwas beweisen müssen.
Cheers, Edward. Wären mehr Leute wie Du, wir könnten die Demokratie retten.
„Einem großzügigen Menschen wird es gut gehen; wer andere erfrischt, wird erfrischt.” (Die Bibel)