Wider den Scrollmüll
8 Fluchtwege aus der digitalen Schwermut
Verehrte Lesende, geheimnisvolle Fremde an Handyscreen und Laptop, Pyjamaflaneure und Sonntagslangschläferinnen, Croissant-in-den-Milchkaffee-Stipper und Teezeremonieure, herzlich willkommen zu Sonntagskind, der zuverlässigen Kolumne für inspirierende Unterhaltung.
Ich wünsche einen herrlichen zweiten Advent – und nun viel Vergnügen mit der 219. Kolumne auf Substack, diesem modernen Digitaltheater.
1. Wartezimmer-Vibes
Heute ist der 7. Dezember, neben mir die Tasse Kaffee, hinter mir pochert der Kamin. Draußen schimmern die Außenlichter meines Hausboots auf der Wasseroberfläche. Lächelnd sitze ich auf einem der Hartschalenstühle, die mir meine Tochter im Tausch gegen die alten Freischwinger gegeben hat. Zum Schreiben brauche ich den Schein innerer Stabilität. Der einzige Schein, an den ich auf diesen Arztwartezimmersesseln dachte: Krankenschein.
2. Rockstar mit Elternbrief
Heute vor einundvierzig Jahren: Ich sitze im Bremer Wohnzimmer am Klavier und probe mit Kriddl, Büssel und Olli für unser erstes Konzert. Morgen ist es soweit. Wir tragen weiße Hemden und darüber alte Anzugswesten aus dem Secondhandladen. Wir jammen, spielen also einfach drauflos, unser Sound ist Blues und Boogie. Also heißen wir „Blues’n Boogie Jammers“. Irres Gefühl: Man spielt, die Kindheit ist noch viel näher als alles, was kommt – und beim Spielen gucken Leute zu, die nicht die Eltern sind – sie tanzen, jubeln, applaudieren. Dazu trinken wir Sechzehnjährigen Bier und fühlen uns erwachsen. Das Rockstarfeeling kriegt aber einen gewaltigen Dämpfer: Katjas Mutter erlaubt nicht, dass ich nach dem Konzert bei meiner Freundin übernachte.
3. Paul McCartney und der diabolische Algorithmus
Ich kann mich trotz stabilen Sitz-Scheins nicht konzentrieren, schaue Instagramreels. Paul McCartney ist jetzt auch auf Insta und redet wie alle anderen Zeug in die Handykamera. Ich liebe ihn. Es gibt aber auch Leute, die sich Mühe geben und tolle, ganz eigene Beiträge machen. Das ist ja das Perfide an Teufelsforum Insta, dass unter dem ganzen Scrollmüll immer wieder Perlen auftauchen, die genau für mich gemacht sind. So einfach bin ich zu durchschauen? Auch nicht gerade ein Kompliment.
4. Menschenmagie mit Manieren
Manchmal muss ich mich zum Lächeln zwingen. Ich will nicht zu den Gemütssklaven gehören, die mit ihrer Übellaunigkeit viral gehen. Im Deutschlandfunk läuft ein Beitrag, der klärt, was Höflichkeit und was Freundlichkeit ist. Für mich gehört die Entscheidung, Teil der Gemeinschaft zu sein, zur Höflichkeit. Gehe ich von Bord in die Welt, knipse ich vorher die inneren Lichter an, um der seelenwunden Gemeinschaft inspirierendes Beispiel eines kunstvoll gelebten Lebens zu sein.
5. Auf den Boogie-Barrikaden von 1984
Früher wollte ich der Gesellschaft nicht angehören. Der Erfolg der Blues’n Boogie Jammers am 7. Dezember 1984 war auch ein rebellischer Triumph über das System, das uns abverlangte, um acht Uhr morgens wenig überzeugendem Lehrpersonal mental zur Verfügung zu stehen.
6. Von Robben und Gazellen: Zeitgeist-Zuckerschock
Heute wird das nichts mit dem Gute-Laune-Trick: Schon auf dem Supermarktparkplatz widern mich die rücksichtslos einparkenden Stadtpanzerfahrer an. Nachlässig gekleidete Erwachsene, die mit Gewalt ihre Pfandflaschen in den Automaten wuchten. Übersättigte Sofarobben, die, Ellenbogen ausgestellt, ihre riesigen Einkaufswagen mit verzuckerten Industrieabfällen beladen. Projiziere ich meine Abgründe auf andere Leute? Mir egal. Ich will eine hungrige Gazelle sein.
7. La lingua dell’ amore
Mit dem glühenden Vorsatz, weiterzulernen, flog ich von einem zweiwöchigen Italienisch-Crashkurs in Taormina zurück nach Berlin. Bald lese ich Dantes Inferno im Original und meine Songs übersetze ich ins Italienische, war ich beim Heimflug über den Ätna sicher. Ich sah mich im Charlottenburger Foccacino mit Riccardo über seinen Nero d’Avola philosophieren und akzentfrei „molto delicioso“ zu seinen Tartufo-Linguini sagen. Ich lud mir die App Rosetta Stone runter und installierte „Italiano avanzato“ für Fortgeschrittene, hundertdreißig Euro. Habe ich die App jemals genutzt und vor Ablauf der Verlängerung gekündigt? Hm.
8. Der Maßanzug als Kampfbegriff
Ich mache mir sorgen um die modische Kompetenz unserer Arbeits- und Sozialministerin. Das, was die Herren Unternehmer auf ihrer Tagung neulich anhatten, liebe Frau Bas, waren keine Maßanzüge. Kommen Sie auf mein Hausboot, ich spendiere Ihnen eine Modenschau! Mit einfachen Fashion-Skills hätte ein Eintrag ins Klassenkampfbuch vermieden werden können.
Danke fürs Lesen, Aufmerksamkeit ist keine Selbstverständlichkeit. In der Flut toller Schreibkunst auf Substack aufzufallen, passiert nicht von alleine. Wenn Du mir ein bisschen helfen willst: ein Like pusht die Kolumne. Ein Kommentar zeigt mir, dass Dir Sonntagskind nicht egal ist, Teilen und Restacken macht mir richtig gute Laune, neue Abos auch. Manche von Euch unterstützen mich mit einem bezahlten Abo, dafür gibt es uneingeschränkten Zugang zum Gesamtarchiv aller Sonntagskindkolumnen, das entspricht etwa dreizehn Stunden Lesezeit. :-)
Herzlich vom Hausboot
Euer
Neu erfunde Wörter im 219. Sonntagskind:
Pyjamaflaneur, Croissant-in-den-Milchkaffee-Stipper, Teezeremonieur, Digitaltheater, Arztwartezimmersessel, Gemütssklave, seelenwund, Scrollmüll, Stadtpanzerfahrer, Sofarobbe, Klassenkampfbuch.
Ich bin Mark Scheibe, der freundliche Snob, der mit seinem Steinway-Flügel auf einem Hausboot lebt – ignorierter Künstler von Weltrang. Ein Geheimtipp bin ich als Opernkomponist und Jazzsänger. Auch als Schlagertexter, Astrologe und Marathonläufer halte ich mich aus Anstandsgründen dem Glitzerlicht der öffentlichen Bewunderung fern. Mit meiner wöchentlichen Kolumne „Sonntagskind” versuche ich mich vor dem natürlichen Andrang auf mein stetig wachsendes literarisches Oeuvre zu verstecken.
Aus der Kajüte der Erkenntnis
I. Wer inneren Halt sucht, sollte zuerst prüfen, worauf er sitzt.
II. Höflichkeit ist der Wille, die eigene Finsternis zu bändigen.
III. Der Algorithmus ist ein Dämon, der dir das Gefährlichste zeigt: dich selbst.







Als mein Bruder ziemlich genau 15 Monate im Oktober 2984 nach meiner eigenen Geburt 1983, also als ich zur Walpurgisnacht und Hitlers Todestag dem 30. April in den Mai getanzt war, standen Du und Penny (später Flax&Schmalz und Hardy, mein erster Klavier Lehrer und Ex meiner Mutter) schon auf der Bühne und habt gejammert (Jam heißt auf Englisch ja Marmelade - ihr habt also einen Eintopf aus Noten gezaubert). Auch ich denke angesichts einer körperlichen Kurzzeit Diagnose hier im Krankenhaus in Tenever oft an die "alte Zeit" vor den ganzen Schlaufonzen: mit Telefonzellen, Poesiealben und kleinen Zetteln die im Unterricht in der Schule heimlich durch weiterreichen getauscht wurden. Es gab selbstgekochten Weizenbrei mit Honig und Sahne bei Oma, aber vorher musste noch einer von uns Kindern die vollen Körner in einer Handkurbel Kaffeemühle zerkleinern. Wir hatten einen Radiosender und tanzten mit Mama in der Küche zu "DÖF" mit dem Lied "Codo".... Ich düsedüsedüse im Sauseschritt und bring die Liebe mit... Dann kam Chernobyll und wir durften nicht mehr auf den Spielplatz, also bauten wir mit Holzklötzen sogenannte "Funktionen" - riesige Gebilde wo wir Pharaonengleich im Inneren etwas versteckten. Meistens ein zehn Pfennig Stück oder sogar eine Mark! In diesem Sinne zur besinnlichen Zeit - never forget where you are coming from ("Take That"!)
Auch Dir einen Kaminknisternden schönen Tagstart und wenn die Glocken läuten Grüße an den Chef, ich hab gehört sein Sohn kommt bald wieder zum Geburtstag feiern ;)😎
Bei der Modenschau für Bärbel Bas wäre ich gerne dabei! Kümmere mich gerne um die Verteilung der notwendigen Eintrittskarten🙃.