Wer kennt Grobi aus der Sesamstraße? Er konnte für uns Kinder der 1970er Jahre sehr unterhaltsam den Unterschied zwischen nah und weit weg vormachen. Dafür rannte er ganz weit nach hinten, rief, dass er jetzt weit weg sei, dann sprintete er nach vorn und hechelte in die Kamera, wie nah er ist. Das ging so bis zur Erschöpfung. Um den Unterschied von „zu früh” und „zu spät” hat er sich leider nicht gekümmert. Das will ich heute nachholen.
Ich kam im Hotel zu spät ans Frühstücksbuffet.1 Ich bin immer zu spät. Ich bin eben Künstler. Das Klischee will es so, und ich bin zu schwach, um mich dagegen aufzulehnen, schließlich ist das Künstlerleben eine verlängerte Kindheit. Ich komme zu spät zu Verabredungen, habe es auch mit über 50 noch nicht gelernt, pünktlich zu sein. Ich kam schon in der Schule zu spät.
Die Briten sagen elegant: „I’m late“, wenn sie später kommen als vorgesehen. „Too late“ sind sie erst, wenn die verabredeten Dinge ohne sie stattfinden. Wir Deutschen erleiden bereits bei der kleinsten Abweichung von der Sollzeit den absoluten Makel. Zu spät: der fatale Schaden. Wie fein ist es hingegen, zu sagen, man sei spät. Einfach spät, nicht zu spät. Als wäre das eine charakterliche Eigenart, nicht das Loser-Stigma des disorganisierten Tagträumers. Das fiese Kleinwort „zu“ macht eine Angelegenheit des persönlichen Stils zu einem Brandmal des Ausgestoßenseins.
Die Erfahrung des Verdammtwerdens hat mich über die Jahre zermürbt. Zu spät im Bett. Zu spät mit den Hausaufgaben begonnen. Zu spät die Bewerbung fürs Stipendium eingereicht. Zum Glück konnte ich das ausgleichen, indem ich in anderen Lebensbereichen zu früh war. Meine erste Zigarette rauchte ich als Achtjähriger. Es war eine Chance, die 14-jährige Tochter des neuen Freundes meiner Mutter zu beeindrucken. Auf dieses Mädchen wälzte das neue Paar die Betreuungslast ab, wenn es unter sich sein wollte.
Meine neue Schwester hing aber lieber mit ihrer Clicque rum, wenn die Alten nicht da waren. Dann klaute man unauffällige Mengen Weinbrands aus der Hausbar und spielte Flaschendrehen. Anschließend wurde geknutscht und gefummelt, während sehr laut eine Nina-Hagen-Schallplatte lief und die Lichtorgel dazu blinkte. Mich hatte man am Bein. Ich war dort eindeutig zu jung, wollte aber dazugehören. Ich war es leid, als Kind unter Halbwüchsigen nicht für voll genommen zu werden.
Mit vorwurfsvoller Strenge lässt mich Hotelmanagerin Ludmilla Herrmann spüren, dass ich zu spät zum Frühstück erschienen bin. Foto: Ingo Bethke
Um diesem erotikfixierten Zirkel Anerkennung abzuringen, studierte ich die Geheimbibliothek im Arbeitszimmer des neuen Manns in der Familie: eine beeindruckende Sammlung von Erwachsenenheftchen mit klangvollen Titeln wie „Private“, „Color Climax“ oder „St. Pauli-Nachrichten“ lieferten das Expertenwissen, von dem die Jugendgang nur träumen konnte. Liebeskunstfibeln wie „The Joy of Sex“ (Band I und II) machten mich zu einer frühreifen Koryphäe auf dem Gebiet der theoretischen Erotik. Ich war der fachkompetente Pornoprofi. Wegen mangelnder Hormonbelastung gingen mir die schmutzigsten Details ganz unaufgeregt über die Lippen. Von den Teenagern brauchte nur einer das Wort „Muschi“ zu grienen, dann wurden alle rot. Ich hatte noch ganz andere Vokabeln in petto und blieb cool.
Ich war deshalb auf die Pubertät bestens vorbereitet und erlebte spektakuläre Dinge, als sich das Knowhow mit der Wirklichkeit verband. Im dauerhaften Lustrausch einer nicht enden wollenden Adoleszenz fand ich mein Element. Das Erwachsenwerden kam dann gut ohne mich aus. Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass es dafür jetzt auch zu spät ist. Frühstücken kann man in Berlin zum Glück rund um die Uhr.
Einige, sehr wenige Leserinnen werden bemerken, dass ich diese Kolumne bereits im November 2021 auf der Webseite des Hotel Art Nouveau veröffentlicht habe. Da sie an der großen Leserschaft, die ich jetzt haben darf, vorbeirauschte, gestatte ich mir, sie noch einmal herauszubringen. Nicht nur, weil ich zu spät begonnen habe, mich um das heutige Sonntagskind zu kümmern.
Private und Colorclimax...waren absolute bestseller..sogar noch Anfang der 80-er.
😂😂😂 super Text, perfekter Start in den Sonntag 🍀🎉