Verehrte Leserinnen, liebe Leser,
Vor ein paar Tagen wurde der größte deutsche Preis für Printjournalisten verliehen, der Theodor-Wolff-Preis. Seit ein paar Jahren bin ich am Flügel und mit Band dabei, wenn die besten journalistischen Kunststücke ausgezeichnet werden. Dieses Jahr war die Preisverleihung im TIPI in Berlin – dort wird ansonsten gerade „Cabaret“ gespielt. Deswegen habe ich aus den bekannten Melodien des Jahrhundertmusicals eine Ouvertüre für die Preisverleihung komponiert. „Willkommen, Bienvenue, Welcome …“ denke ich aber auch angesichts der zu wiederholenden Bootsscheinprüfung, die vor mir liegt.
Als ich letzte Woche meinen Gang aufs Wasser professionalisieren wollte, krachte ich gegen die Kaimauer der Bürokratie: Weil ich meine Fahrerlaubnis nicht dabei hatte, wurde ich nicht zur Prüfung zugelassen – von wegen welcome.
Abgesehen von der Schmach der Zurückweisung war da die Frage: Wo ist der verdammte Führerschein? Er kam zu mir zurück, als ich mit dem Kopf gerade nicht in den Wogen der See war, sondern in den luftigen Höhen meines Komponistenglücks: Ich legte die handgeschriebenen Noten der Show-Ouvertüre auf den Kopierer, damit die beiden Musikerinnen an meiner Seite wissen, was zu spielen ist – und da lag das pinkig-violette Kärtchen mit der großen Bedeutung. Ich hatte es irgendwann liegenlassen, als ich eine Kopie meines Führerscheins brauchte.
Im letzten Sonntagskind berichtete ich von dem Dilemma – und der inspirierenden Zufallsbekanntschaft, die sich in der Folge dieses Fails ergeben hat. Den unbarmherzigen Mann von der Prüfungskommission habe ich längst vergessen. Aber an eine faszinierende Begegnung werde ich mich mein Leben lang erinnern. Von guten Begegnungen kann es gar nicht zu viel geben – damit sind wir beim Thema des 207. Sonntagskinds. Viel Freude beim Lesen von
Zuviel ist nicht genug
Ein Plädoyer fürs Übermaß und die Kunst des Scheiterns
Irgendwann habe ich es geglaubt: Ich bin zu viel. Zu chaotisch, zu unentschlossen. In der Schule: „Mark ist oft unkonzentriert. Er muss lernen, bei einer Sache zu bleiben.“ – So steht es in meinem Zeugnis der dritten Klasse. Später hörte ich: „Deine Musik ist zu kompliziert, zu durcheinander, viel zu viele Ideen auf einmal.“
Tatsächlich: Mehr musikalische Ideen lassen sich in zweieinhalb Minuten nicht unterbringen: “Der Geheimorgelagent” aus dem Jahr 2000, nur für Euch veröffentlicht, also so gut wie geheim.
Ich begann, neidisch auf Freunde und Kollegen zu schauen, die ihr Leben wie einen Laserstrahl zu bündeln verstanden. Während sie mit dem Speedboot ihrer Zielstrebigkeit den Fluss des Lebens entlangbretterten, kam es mir vor, als dümpelte ich mit einem zusammengeleimten Floß über einen Strom, der nicht weiß, was er sein will: mal ein Wildbach, mal ein Meer, oft aber nur ein veralgter Tümpel.
Ich tröstete mich mit Hochmut: Während die anderen sich ihrer Zielstrebigkeit unterordneten, wählte ich Freigeist den Weg der Erfahrung: Wohin die Reise geht? Wohin der Fluss des Lebens mich spült!
So war ich schon Kunstverkäufer in einer Galerie, Cocktailmixer, Ballettrepetitor, und Hotelbarpianist. Conferencier in Varietés und Kreativitätscoach für Führungskräfte.
Ich war Opernkomponist, Orchesterdirigent, Chorleiter und Hochschuldozent an der Schauspielschule. Eine Ausbildung zum Astrologen habe ich absolviert, war Dokumentarfilmer und Schlagertexter im Aprés-Ski-Milieu. Als Fernsehchansonnier bin ich auch gescheitert – dabei habe ich bei allem gedacht: Genau was ich jetzt mache, das ist mein Ding! Anfang der 2000er habe ich für ein bekanntes Magazin Businesstipps von Frauen für Frauen geschrieben, der Höhepunkt meiner Hochstaplerkarriere.
Außerdem bin ich sehr gut im Fälschen von Dokumenten in Photoshop. Einmal kündigte das Finanzamt eine Umsatzsteuerprüfung an: Eine Dame mit Lächeln-Verboten-Aura entnahm sämtliche Ausgabenbelege meiner Steuererklärung, deren Betrag 100 Euro überschritt – und die nicht meine Adresse enthielten.
Ich war perplex: Kaufe ich für über 100 Euro Fachbücher, CDs oder einen Kopfhörer, muss also meine Adresse auf den Zettel? Ganz recht! Aber man kriegt doch immer nur einen Kassenbon! – Trotzdem. Hätte ich meine Adresse heute früh noch schnell auf die Quittungen schreiben oder einen Stempel draufpappen können? Ja. Kann ich das nicht jetzt eben noch machen? Nein, das wäre Urkundenfälschung.
Aber wir wollen mal nicht so sein, sagte die Bizarrlady der Buchhaltung: Gehen Sie innerhalb von vierzehn Tagen zu den Geschäften und lassen Sie sich die Belege abstempeln, mit Ihrer hinzugefügten Adresse. Sonst gelten die Ausgaben als privat, ätsch.
Zwei Wochen lang durch die Republik reisen, die nette Freiburger Buchhändlerin nur wegen eines Stempels besuchen, in den kleinen Plattenladen nach Leipzig, nochmal zum Mediamarkt in Brinkum? Und was tun mit dem Schreibwarenladen, in dem ich Füllfederhalter, Notizbücher und den teuren Locher für das Atoma-Ringsystem gekauft habe, der aber trotzdem wegen Insolvenz schließen musste? Nein, Madame.
Als Umsatzsteuer-Ultra wurde die Quittungsqueen mit ihrem Fehlbetragsfetisch zur Geburtshelferin einer ganz neuen Idee im Umgang mit den mangelhaften Belegen: Sie wurde gewissermaßen zur Beleg-Hebamme.
Anstatt nämlich auf Anordnung Geschäfte abzuklappern, gebar der Künstler in mir glaubwürdig gefälschtes Briefpapier der jeweiligen Unternehmen und brachte neue, mit einem „Stempel“ versehene Belege zur Welt. Die druckte ich aus, scannte sie ein und schickte sie der Daten-Domina. Die verzichtete auf weitere Demütigungen – mein Vergehen ist verjährt.
Ein Laserstrahlmensch hätte währenddessen an seiner Karriere herumgeleuchtet – und keine verborgenen Dokumentenfälscherfähigkeiten in sich entdeckt.
Neben solchen Energiebündlern fühle ich mich wie eine Discokugel: Überall Licht, aber nie auf einen Punkt. Ist die Urkundenfälschererfahrung von irgendeinem Nutzen? Nein! Aber sie verfestigt die Gewissheit: Mein Leben ist ein Kunstwerk.
Das Glück des Dilettanten
Irgendwann habe ich begriffen: Interesse ist eine Gabe. Wenn mich etwas interessiert, stürze ich mich mit Lust hinein – ob Photoshop, Filmschnitt, Future-Trading oder die wirkungsvolle Behandlung des Kontrafagotts im Orchester. Ich lerne, was mir Freude macht. Und ich will meine neuen Fähigkeiten immer sofort in klingende Münze verwandeln. Studium? Ausbildung? Habe ich mir geschenkt – aus Rücksichtnahme mir selbst gegenüber.
Beethovenfrisur bei Nacht
Natürlich gehört auch Scheitern dazu. Der Schmerz, wenn man nachts mit einer Beethovenfrisur geniale Einfälle aufs Notenpapier wirft und am Morgen feststellt, dass ein Orchester klingen kann wie ein Haufen Mülleimer mit quietschenden Deckeln – unvergesslich, wenn man von Berufsmusikern mitleidig angelächelt wird. Aber genau darin steckt die beste Schule: Was grässlich klingt, komponiert man nie wieder. Hat man einmal einen magischen Sound komponiert, vergisst man andererseits nie, wie‘s geht.
Ordnung vs. Überfluss
Die Welt liebt Minimalisten: Capsule Wardrobes, drei Anzüge, drei Hemden, drei Paar Schuhe und ein Ziel. „Weniger ist mehr“, flüstert uns Marie Kondo zwischen ihren „Sei ordentlich!“-Buchdeckeln zu.
Fake News! Wer sterile Umgebungen liebt, ist entweder Chirurgin oder hat einen Klinikfetisch. Der Mensch braucht Chaos, um zum Gestalter zu werden.
Mehr ist „mehr“, ganz einfach. Phantasielos, aber wahr.
Leben als Luxusprodukt
So habe ich Glück: Mein Zuviel ist mein Kapital. Ich verdiene mein Leben mit Dingen, die niemand wirklich braucht – und die doch überlebensnotwendiger Luxus sind. Musik, Geschichten, Bilder: nutzlos im betriebswirtschaftlichen Sinn, aber lebensrettend im menschlichen. Saskia erzählt, wenn sie einen kleinen Energieschub braucht, hört sie mein Lied „C’est la vie“. Ist sie traurig, lässt sie sich mit „Blaue Stunde“ den Schmerz verwandeln. Und im Auto mit der ganzen Familie gibt sie sich mit „Annabella Totale“ den Kick für den Tag. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich darüber freue, wenn meine Musik in einem anderen Leben eine Rolle spielt.
Laserstrahlen sind effizient. Aber tanzen wir nicht viel lieber im Licht der Diskokugel?
A U S D E R K A J Ü T E D E R E R K E N N T N I S :
Fahre nicht gegen Mauern – weder mit dem Boot noch im Kopf.
Wer sich verirrt, sammelt Geschichten.
Wo Vorschriften das Steuer übernehmen, ist Humor dein Rettungsring
Manchmal ist der Umweg der direkte Weg zur Pointe.
Papierkram ist auch nur Konfetti
PS: Heute, Sonntag, 21. 9., 17 Uhr: Showfenster Reinickendorf, Lesung mit Musik. Sehen wir uns?