Liebe Freundinnen, Leser und Abonnierende,
heute ist es unmöglich, den Vorsatz der optimistischen Betrachtung einzulösen. Einer meiner längsten Freunde ist verstorben. Ihm ist das heutige Sonntagskind gewidmet.
Mathias Büsseler, im Jahr 1988. Hinten bin ich, unter dem Gitarrenhals von Rainer Donalies.
Es ist das Jahr, dem George Orwell einen Jahrhundertroman gewidmet hat. Ich bin 16 Jahre alt und irre aufgewühlt durch einen Bremer Dezemberabend. Dann klingele nassgeregnet bei meinem Freund Mathias in der Bauernstraße 8. Gerade eben war ich noch bei Katia, meiner großen Liebe, mit der ich schon ewige drei Wochen zusammen bin. Ihre Mutter war nicht zuhause, heute sollte es endlich passieren: unser legendäres erstes Mal! Es gab Kerzenlicht, Sektflöten und einen Kassettenrekorder mit der Peer Gynt-Suite von Edvard Grieg. Wir waren gerade nackt umschlungen, da stand plötzlich Katias Mutter in der Flügeltür. So streng, wie damals nur entschlossene Vegetarierinnen schauen können, erdolchte sie mich mit ihrem Blick und ließ keinen Zweifel, dass hier eine Person zuviel im Raum war. Aus ihrer Sicht war ich das. Ich verschwand, mit Beton im Bauch.
Ich sitze also am runden Küchentisch in Mathias’ Küche. Er schenkt Bailey’s ein. Den kauft er nicht, er macht ihn selber – aus irischem Whiskey, gezuckerter Sahne und Geheimzutaten. Bei ein paar klebrigen Gläsern werde ich meine Geschichte über die schmerzhafte Unterbrechung meines Liebesfestes los, der Bailey’s löst den Beton. Mathias wirft noch ein Brikett in den Kohleofen, der die Küche heizt. Mit ihm zu sprechen tut gut. Wir kennen uns seit ein paar Jahren aus der Schule, er ist zwei Jahre älter als ich und wohnt schon alleine.
Zwei Jahre später ziehe ich bei Mathias ein. Den Keller hat er sich zu einem Probenraum gebaut, in dem er Schlagzeug spielen kann. An die Wände hat er Auslegeware geklebt, unter der Decke baumeln farbige Spotlightglühbirnen. Da trage ich über eine steile hölzerne Treppe mein E-Piano runter. Wir spielen in völliger Dunkelheit, ganz frei, denn wir lieben Jazz und Jazz ist frei. Irgendwann hören wir auf zu spielen. Wir sehen nichts und trauen uns kaum zu atmen. Plötzlich beginnen wir wieder loszuspielen – gleichzeitig. Erschrocken von der magischen Synchronizität wiederholen wir das Wunder einige Male. Dann sitzen wir wieder in der Küche und sprechen darüber, wie verwandt Musik und Erotik sind. Der Bailey’s ist alle.
Leider wird die Erotik unserer geistig-seelischen Verbindung von sehr unsexy Ärgerlichkeiten überschattet: Mathias hat schon früh gelernt, einen Überweisungsschein für die Miete zur Sparkasse zu tragen, er wusste auch, dass man die Elektrizität der Stadtwerke bezahlen muss. Ich hatte von alldem nicht den blassesten Schimmer. Auch wusste Mathias, was zu tun war, wenn der Strom mal wieder abgestellt war: dann schraubte er den Lichtschalter im Treppenhaus auf, klemmte ein fast unsichtbares Kabel an, das über einen Spalt im Türrahmen unsere Bude mit Strom versorgte. Er beherrschte auch so erwachsene Kunststücke wie Geschirrspülen, Müllraustragen und Staubsaugen und machte damit deutlich, wer von uns beiden der Neandertaler war.
Eines Abends kam er ins Bistro Brazil, einer abenteuerlichen Bar im Ostertorsteinweg, in der ich hinterm Tresen meinen Mietanteil zusammenjobbte. Lachend schleppte er sich volltrunken und in Begleitung einer Freundin, mit der er eine Flasche Tequila leergemacht hatte, den Tresen entlang. Es amüsierte ihn selbst, wie sehr er nicht in der Lage war, nach einem Glas Wasser zu fragen. Immer wieder lallte er „Glawawa“.
In einer anderen Nacht, es wurde schon hell, saßen wir an jener Bar und waren uns einig, dass das Leben aus Veränderung, immerwährender Veränderung bestehen muss, um lebenswert zu sein. Ich wollte, dass das nicht nur Schnapsgelaber ist und überredete Mathias, mir eine Glatze zu schneiden, sofort! Wir torkelten die paar Meter rüber in die Bauernstraße. Was mit der Schere erledigt werden konnte, war schnell gemacht. Der anspruchsvollere Part stand uns noch bevor. Zur völligen Enthaarung standen nur eine Handvoll gelber Plastikrasierer auf dem Waschbeckenrand zur Verfügung, alle schon benutzt. Mathias gab sich alle Mühe, mit der Akuratesse des im Sternzeichen Jungfrau Geborenen, meinen Kopf glatt zu bekommen – zum Glück gab es in den 80ern noch kein Instagram! Am Ende war mein Kopf zwar unbehaart, vor allem aber blutig. Ich sah schlimm aus. Wir gingen zurück in die Bar, um auf die Veränderung anzustoßen.
Mathias machte weiter mit Veränderung: nächtelang trommelte er sich auf die Aufnahmeprüfung des Jazz-Studiums in Groningen hin und bestand. Mich hätte keine Hochschule genommen, ich hatte noch nicht mal Abitur. Nachdem ich mit 18 vollmundig die Schule abgebrochen hatte, wurde ich ein halbes Jahr später kleinlaut und wollte zurück. Nur mit sehr viel Wohlwollen und dutzendhaft zugedrückten Augen der Schulbehörde bekam ich die Erlaubnis, den abgebrochenen Jahrgang 12 noch einmal zu beginnen. Am ersten Morgen verschlief ich. Mathias kam in mein Zimmer und sagte: „Es ist Zehn!” Ich schreckte aus dem Tiefschlaf hoch, packte ihn am Kragen und schrie: „Zehn? Zehn? Zehn?” Dann lachte er und hat mir damit unvergleichlich charmant klargemacht, was es für eine unrealistische Schnapsidee war, wieder zurück in die Schule zu gehen.
Die Schule des Lebens, die Mathias und ich uns einander gaben, kam ohne Behörde aus. Mit Mathias habe ich gelernt, gemeinsam zu swingen. Sich aufeinander einzulassen und ein Gefühl im Augenblick in Musik zu verwandeln. Manchmal spielte er einfach nur Viertelnoten auf seinem Ridebecken, und nichts fehlte. Alles blieb gleich und trotzdem veränderte sich alles. Jetzt hat er es mit der Veränderung übertrieben und fehlt für immer. Ich trink nur noch Glawawa.
Ein ganz zauberhafter Nachruf, den ich mit warmem Herzen und einem nostalgischen Lächeln las. Mein aufrichtiges Beileid zu Deinem Verlust!
Da ich weiß, wie es sich anfühlt Freunde zu verlieren, finde ich solche Erinnerungen schön und wichtig, sie auch zu teilen, danke dafür! Ich werde ein Glas Eierlikör für in trinken....