Guten Morgen, liebe Lesende,
herzlich willkommen zum 172. Sonntagskind. Großes Hallo auch an die vielen neuen Abonnentinnen und Abonnenten, die gestern in Lutterbek bei meiner Show waren. Heute schreibe ich, wie so viele Leute, über das Theater hinter den Kulissen Deutschlands ältester Kulturfernsehsendung. ich erhoffe, ich kann eine Stimme zum Klingen bringen, die in dem Zusammenhang noch nicht gehört wurde. Viel Freude beim Lesen. <3
In der Marketingabteilung der ARD knallen gerade die Champagnerkorken. „Wenn Ihr es schafft, dass unsere verschnarchte Kultursendung aus dem Nachtprogramm in allen Zeitungen das große Thema ist, bezahlen wir Euch eine 80-tägige Orgie!“ – So etwa könnte es gewesen sein. Mit Pausenhofmethoden in die Überschriften des Feuilletons! Die Marketingfuzzis engagieren einen verhaltensauffälligen Provokateur für die Redaktion der Schülerzeitung und hastig wird im Lehrerzimmer eine Konferenz einberufen. Die „Causa“, der „Fall“, die „Personalie“ Thilo Mischke sind in aller Munde bei den Damen und Herren Studienräten, die sich darüber einig sind, dass der Rowdy nicht so wichtig genommen werden darf und die genau das leidenschaftlich tun. Ausnahmsweise alles richtig gemacht, ARD! Nach Eurer superseichten Langweilergala zu Udo Jürgens Neunzigstem zeigt Ihr, dass Ihr etwas drauf habt, Gratulation.
Wer es noch nicht mitbekommen hat:
Einige einflussreiche Leute finden, dass der neue Moderator der Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ der ARD die Sendung nicht moderieren soll, weil er ein bestimmtes Buch geschrieben hat. Es heißt „In 80 Frauen um die Welt“. Der Titel von 2010 beschreibt die gescheiterte Reise eines liebeskummerkranken Endzwanzigers, der vor hat, sich einmal um die Welt zu vögeln. Seine ebenso pubertär gesinnten Kumpels übernehmen die Rechnung der Reise, wenn es ihm gelingt, so die Wette.
So weit ich in Erfahrung bringen konnte, beschreibt der Autor in diesem Buch vor allem seine Eindrücke vom Rendez-vous-Verhalten der Leute in verschiedenen Ländern. Von den verschiedenen Dialekten der Körpersprache und wie unterschiedlich auf der Welt geflirtet wird. Leider ist das Buch gerade vergriffen. Kein Wunder, der Autor hat selbst eine Neuauflage nicht gewünscht. Ausschnitte konnte ich trotzdem finden, zum Glück. Verständnis ist besser als Unterstellung. Denn ich bin nicht sicher, ob hinter der lauten Kritik immer Werkkenntnis wohnt oder ob Titel und Klappentext genug Brandbeschleuniger sind, um den Flammenwerfer der Empörung anzuschmeißen. Das Buch ist keine Aufreißerfibel, in der ein präpotenter Idiot damit prahlt, wieviele Bräute er flachlegt. Die Story ist überraschend, denn was der Ich-Erzähler anstelle des Welt-Sex-Pokals kurz nach Reiseantritt findet, ist die große Liebe. Klingt das nicht eher nach Rosamunde Pilcher als nach Misogynie?
Aber der Journalist auf Platz 1 der Aufregungs-Charts hat sich auch mit Äußerungen über die vermeintliche Vergewaltigungsnatur des Mannes in den Fokus der Besserwissenden gebracht. Da gibt es Sätze wie Zeilen eines Popsongs: Unverschämt, widerlegbar, leicht zitierbar, unvergesslich. Er beschreibt seinen Kulturbegriff als unterkomplex und bildet damit eine Gegenposition zu den vielen Kulturschlaumeiern in Deutschland, die dafür sorgen, dass Kunst keinen Spaß macht und Spaß keine Kunst ist. Die konnten sich jetzt durchsetzen, Thilo hat einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen und wurde nicht versetzt. ich finde das schade.
Ob diese Leute, die jetzt in einem offenen Brief die ARD zu einer Kündigung bewegt haben, auch mit dem Autor sprachen und nicht nur über ihn: Ich habe keine Ahnung.
Uns allen wünsche ich die weitere Überwindung der immer noch himmelschreienden Ungerechtigkeit zwischen Frauen und Männern. Wem das hier alles zu schwanzlastig ist, weil hier mal wieder ein von Sexismus nicht betroffener Kerl seine unbekümmerte Weltsicht mansplaint, sei das phantastische Buch „Porno Positiv“ von Paulita Pappel ans Herz gelegt. Dort geht es um einen allgemeinen Kulturwandel durch selbstbestimmte Sexualität.
Leben wir nicht alle nur, weil unsere Eltern einander geil fanden? In unserer DNA wohnt eine Orgie. Wir wurden auf die Welt gefickt. Von Begierde gepeitscht warfen sich unsere Eltern aufeinander. Sie waren angesichts der Aussicht auf lusttrunken machenden Sex bereit, einander um den Verstand zu vögeln. Vielleicht haben sie sich auch gegenseitig objektifiziert, vielleicht vermischte sich ihre Lust mit Phantasien von überwältigender Heftigkeit, das passiert manchmal im Endorphinrausch des Verlangens. Dessen sollten wir uns gewahr sein, finde ich. Besonders dann, wenn es um Kultur geht.
Mit herzlichem Gruß aus Lutterbek bei Kiel
Euer Mark
Sonntagskind, die Gratiskolumne mit wöchentlicher Lieferungsgarantie: Schnell wie Amazon, romantisch wie die Post, ansonsten unvergleichlich. Wer dieses Kleinod der Frühstücksliteratur finanziell pflegen will, macht große Freude:
Nachtrag vom 9. März 2025 – Damals, vor zwei Monaten, als die ARD durch ihre Moderatorenwahl für die Sendung ttt mit der Kulturelite kollidierte, dachte ich: Warum redet keiner mit ihm, warum reden sie alle über ihn? Jetzt spricht die ZEIT mit Thilo Mischke – ein Link wurde mir zugespielt:
Das Gespräch tut der Wunde gut, die der Medienskandal im Zeitgeist hinterlassen hat. Fast so wohltuend wie Musik.
Ein musikalischer Seelenurlaub
Ach, Musik rettet mich immer wieder! Auf dem sturmumtosten Ozean der mit rhetorischen Kanonen herumballernden Meinungsdampfer tauche ich gern im U-Boot der Gleichgültigkeit. So tief, bis die Donnersalven nur noch sanfte Perkussion in der Ferne sind. Dort unten verwandelt sich die Politik in Poesie. Keine Angst, ich habe keine Trump-Tarantella komponiert. Auch keine Putinpolka, keinen Söder-Song. Noch nicht mal eine Mischkemelodie flog mir in die Finger.
Statt solcher kabarettistischer Kompositionen: Was ist der Mann? – die Frage beantwortet ein ironischer Songtext mit einer ganz unironischen Musik. Aufgenommen im Studio Nord Bremen, wo James Last seine ersten Aufnahmen gemacht hat und Heintje seine Hits eingesungen hat. In „Der Mann“ taucht im Chor das Wort „Mama“ auf – eine Reminiszenz an Heintje und Erinnerung an unser aller Herkunft. Und außerdem eine Verbeugung aus reiner Liebe zu meiner Mama – man höre an der Stelle genau hin!
Euch, meinen lieben Sonntagskindlern, schenke ich den Song, Ihr sollt ihn Euch nicht auf Spotify oder in anderen Schmuddelecken anhören müssen:
SONNTAGSKIND bleibt gratis, ich bin ein Anhänger des Schlaraffenlandgedankens. Wer mag, kann trotzdem gerne spenden – ich freue mich über jeden Tropfen, der auf dem heißen Stein meines Lebensstils verdampft. Vielleicht wird die Verschwendung die Quelle neuer Sonntagsgeschichten sein!
Diese Kolumne heute ist ein bisschen streng, ich weiß. Zur ergänzenden Unterhaltung empfehle ich
Immer wieder Danke für die unaufgeregte Stimme der Vernunft mit Spaß.
Lieber Mark,
Du schreibst mir aus dem Herzen.
Vielen Dank und noch einen schönen Sonntag!