Freundinnen, Freunde,
herzlich Willkommen zum 159. Sonntagskind – auch ein großes Hallo an die vielen neuen Leserinnen und Leser der vergangenen Woche. In Zeiten wie diesen, die reich sind an überraschenden Begegnungen auf Konzerten, im Tonstudio, auf Festen, schlafe ich oft mit einem Lächeln ein. Weil das Leben einen Sinn schenkt. Dann denke ich: wie schön ist die Welt! Und dass es erst dann so richtig magisch wird, wenn man etwas gemeinsam auf den Weg bringen kann. Ein bisschen von diesem Glück lässt sich hoffentlich in diesem Text heute finden. Weiter unten will ich Euch zu einem Geheimkonzert am 16. Oktober in Bremen einladen. Aber der Reihe nach, ich wünsche viel Freude beim Lesen!
„Ich bin nie zufrieden“ grummelt ein Freund, der gerade ein phänomenales Konzert am Klavier hinter sich gebracht hat, „Zufriedenheit ist der Tod der Kunst“. Während alle anderen noch ein paar Stunden im Nachhall seiner musikalischen Offenbarung feiern, zieht sich der Künstler ins Schattenreich seines Lebensernstes zurück. Muss das sein?
Ich kenne die Angst vor falscher Freude: Da denkt man nach einer abgeschlossenen Komposition, nach einem gelungenen Konzert oder einer pointierten Kreation der Gattung Frühstücksliteratur, man hätte etwas Bedeutendes zustande gebracht und freut sich wie ein Kind über seine tolle Sandburg. Dann kommt der Zweifel und haut einem das schöne Werk kaputt. Mit dem Selbsthass erscheint die Scham: Sie lacht einen aus, dass man für möglich gehalten hat, irgendetwas von Belang auf die Reihe gekriegt zu haben. Dann lieber alles prophylaktisch schlechtreden, so ist man vorm peinlichen Irrtum der Selbstüberschätzung sicher. Solange man im Schlick seiner Privatkatastrophe herumgrummelt, steht man zumindest nicht im Verdacht, ein seichter Bonvivant zu sein.
Freude ist unter uns hart arbeitenden Künstlern verpönt. Schließlich ist sie auch ein bisschen oberflächlich. Die schlimmsten unter uns Kunstheinis sind die Theaterleute. Wenn man das Pech hat, Theaterleute unter seinen Freunden im Publikum zu haben, darf man sich bei seinen Auftritten auf verschränkte Arme und ernste Mienen hinter standardisierten Kulturbrillen freuen. Je nach Generation im Heiner-Müller-Stil mit starker schwarzer Fassung oder in der eher woken Variante im randschwachen Brechtlook. Im frisurellen Umfeld letzterer Bebrillung findet sich oft der Problem-Pony. Der ist unter identitätssensiblen Kulturschaffenden als Haargestaltung noch beliebter als der aggressive FLINTA-Undercut. Hinter der äußerlichen Ähnlichkeit der Mitglieder der intellektuellen Elite verbirgt sich eine nachhaltige Humorverweigerung mit der Verpflichtung zu äußerstem Ernst.
Genug des Styleshamings – Zufriedenheit ist ein Geschenk, das man nicht fürchten muss, denke ich. Ohnehin ist der Rausch des Glücks vorübergehend – ich empfehle, ihn mitzunehmen, wenn er sich anbietet. Mein genialer Pianistenfreund könnte sich zurücklehnen und sagen: „Für heute bin ich zufrieden. Ich halte mich zwar für einen Scharlatan, aber ich habe alles so gut gemacht, wie ich konnte.“ Man verliert als Künstler nicht seinen Zauber, nur weil man manchmal feiert wie ein Mensch – auch, wenn viele Leute denken, dass man sich als Künstler von seinen Problemen ernährt. Ich schwöre, es sind noch genug Probleme zum Verwandeln da, selbst wenn man hin und wieder gute Laune hat.
Ich habe mal einen Veranstalter kennengelernt, der mir beim ersten Treffen offenbarte, dass er Menschen immer sofort in Schubladen steckt, da wisse er, woran er ist. Ich kam gut weg in seinem Schubladensystem, seitdem prüfe ich diese unpopuläre Methode der Kommunikationshygiene immer wieder auf ihren Weisheitsgehalt. Könnte sein, dass er hoch ist. Schubladen sind metaphernaffine Elemente: man möchte als Individualist in keiner landen, das Etikett „unterste Schublade” hat man auch nicht gern auf seinen Umgangsformen kleben. Sich in keine Schublade einsortieren zu lassen, ist das Mantra der Originellen.
Auch ich bin von Schubladen fasziniert. Auf einer Auktionsplattform habe ich einen Apothekerschrank mit 32 Schubladen erstanden. Die Schubladen haben kleine Messingrahmen, um Kärtchen mit der Aufschrift ihres Inhalts zu halten. Dieser Schrank ist der Tod des Krempels! Ich habe den Eindruck, dank diesem historischen Möbel ein ordentlicher Mensch zu werden. Ich bin in Wirklichkeit gar kein Messi, ich hatte nur 56 Jahre lang keinen Apothekerschrank mit 32 Schubladen.
Endlich gibt es eine eigene Schublade für alles: Je eine für herumliegende CDs, Kleberollen, für Ladegeräte, USB-Sticks, Batterien, Glühbirnen, Kerzen und Briefumschläge, handgeschriebene Post, wiederbenutzbares Geschenkpapier, Playmobilfiguren, abgelöste Buchrücken, Visitenkarten aus den 1980ern, leere Kassettenhüllen. Leider reichen die Schubladen nicht aus, der Schrank taugt doch nichts. Was nützt es, wenn ich mit mir zwar zufrieden bin, aber nicht genug Schubladen habe?
Neu erfundene Wörter im 159. Sonntagskind: Privatkatastrophe, Kulturbrille, randschwach, frisurell, Styleshaming, FLINTA-Undercut1, Problem-Pony2, identitätssensibel, Bebrillung, Kommunikationshygiene.
Liebe Freundinnen, Freunde, ich bedanke mich für Eure Konzertbesuche in Berlin und Bremen – die beiden Aufführungen meines Liedzyklus über Tango waren so schöne Feste. Man kann sich die größte Mühe geben, ein tolles Programm zu basteln – wenn es nicht auf die liebenden Ohren und das Wohlwollen eines verständigen Publikums trifft, bleibt die Kunst nur eine Behauptung. Mit Euch sind die beiden Konzerte zu unvergesslichen Abenden geworden. In Bremens Villa Sponte hat der gestaltende Blick von Jörg Sarbach Erinnerungen In Bilder verwandelt:
Einen Tag zuvor war ich mit den beiden Musikern im Tonstudio in Berlin, um einige der Lieder aufzunehmen. Bald sind die Lieder geschnitten und gemischt. Sonntagskind-Abonnentinnen bekommen die Lieder als erste zu hören.
Einladung zur Geheimshow
Meine Freundin Cornelia hat mich vor einem halben Jahr gefragt, warum ich das Sonntagskind nicht auf die Bühne bringe. „Weiß ich auch nicht”, war meine Antwort. Sie hat nicht locker gelassen und jetzt habt Ihr den Salat: in einem neuen Bühnenprogramm versuche ich die Verbindung von nonchalanten Songs und satirischen Erzählungen. Am 16. Oktober spiele ich im Schnürschuh-Theater in Bremen eine Geheimshow. Dazu möchte ich Euch einladen. Der Eintritt ist für Euch frei. Die Anzahl der Plätze ist begrenzt, darum bitte ich um eine kurze Mail mit dem Betreff GEHEIMSHOW, damit ich weiß, ob die Stühle reichen.
Danke fürs Lesen von Sonntagskind, der zuverlässigen Quelle feingeistiger Unterhaltung am Sonntagmorgen. Hier kommt die Schönheit vor der Wahrheit, die Poesie sticht die Faktenlage. Umsonst, aber nicht vergeblich. Wer die sonntägliche Frühstücksliteratur unterstützen möchte, ist Teil eines elitären Zirkels großzügiger Connaisseure!
Anmerkung der Redaktion: Der FLINTA-Undercut taucht in der folgenden Sonntagskindkolumne erstmals auf:
Das Wort „Problem-Pony” gehört in die oberste Schublade von Wortneuschöpfungen der Gegenwart. Es geht auf eine sehr genaue Beobachtung der stilkundigen Theaterregisseurin Therese Lösch zurück, der auffiel, wie über die Frisur innerer Konflikt demonstriert wird.
Schubladen sind ein Irrglaube. Je mehr desto verwirrender. Und es ist so einfach, fester Vorsatz - Ordnung durch Schubladen- doch innerhalb kürzester Zeit ist alles in allen. Eigene Erfahrung.
Bin gern am 16.10. dabei. Gruß Ute