Verehrte Sonntagskindlesende,
ich frage mich jede Woche, für welchen Teil der untergehenden Welt ich einen freundlichen Blick übrig habe. Heute ist es der Terror des Kompromisses – wenn Anspruch und Wirklichkeit so sehr auseinanderklaffen, dass die Fallhöhe der eigenen Erwartung zu einer Bruchlandung führen muss. Ich hoffe, dass Sie an meinem Sturz beim Frühstück Freude haben und wünsche einen herrlichen Sonntag.
Eine Aura von Edelsinn sorgt für Eleganz, wo immer ich mich zeige. So ist das Leben als Komponist – dachte ich früher immer. Ich trage schöne Anzüge und werde verehrt. Für die genialen Melodien, die ich in magischen Stunden aus der musenduftgeschwängerten Luft fische. Der Alltag besteht aus inspirierenden Romanzen mit Sexgöttinnen von feinem Geist, die unendliches Verständnis für meinen Freiheitsdrang haben. Anonyme Mäzeninnen überweisen ständig Unsummen und schicken parfümierte Dankesbriefe für lebensverändernde Tonschöpfungen.
In der Wirklichkeit sind immerhin die schönen Anzüge angekommen, ansonsten verteilt die raue Hand der Realität Ohrfeigen. Heute zum Beispiel: Ich frühstücke im Hotel – wegen Proben für ein symphonisches Projekt im neuen Lichtwark-Theater in Hamburg-Bergedorf1.
Der sogenannte Frühstückssaal in meiner Herberge ähnelt einer Bahnhofshalle mit Auslegeware. Hunderte Menschen drängen sich am Buffet und pulen in meinem Frühstück rum. Als Einzelkind ist das für mich eine Zumutung. Ich habe nie gelernt, meine Bedürfnisse im Kollektiv unterzubringen. Wie auch? Wer immer im Zentrum der Liebe seiner Eltern gedeiht, empfindet keine Not.
Ich stehe abseits vom hungrigen Mob, der sich an den Futtertrögen der Übernachtungsindustrie zusammenschubbert. Mir fehlt der Mut, am Rangkampf der Schlangestehenden teilzunehmen. Holzfällerhemden, die an dickbäuchigen Männern hängen. Auberginehaarige Frauen in zu engen Leggings auf Puschen, mit Handylautsprecher telephonierend. Rentner mit aufgekrempelten Ärmeln, die die Hände in ihr Hüftfett stemmen und sich so mehr Platz im Gedränge verschaffen – kurz: ein Fest für die Sinne, ein Opernball der Umgangsformen.
Mir fehlt der Territorialinstinkt, um mich durchzukämpfen. Ich werde hier verhungern. Wo bleibt der woke Aufschrei, der die Ausgrenzung von Einzelkindern benennt? Wer sorgt hier für Sensibilität? Ich kann nichts dafür, dass meine Mutter vergessen hat, mich darauf hinzuweisen, dass Frühstück ans Bett kein Standardservice der Gesellschaft ist.
„Am Morgen stellen Sie sich Ihr Wunschfrühstück aus einer vielfältigen Auswahl an süßen und herzhaften Speisen selbst zusammen.” – heißt es auf der Hotelwebseite. Dieses Bild des britischen Gesellschaftsmalers William Hogarth von 1731 nahm vor knapp 300 Jahren die Realität vorweg. Photo: Wikimedia Commons
Ein seltener Augenblick: es herrscht Ruhe am Buffet. Das Raubvolk spachtelt sich Berge von Rührei in die Gierschlünder, von vollgeschaufelten Tellern. Hochgestapelte Baconstreifen landen zwischen gorgonzolaverklebten Zahnreihen. Schinkentürme werden in fingerdick bebutterte Brötchenhälften gepresst und mit Wurstfingerpranken in unzufriedene Anspruchsmäuler gestopft. Die sogenannten Gäste des 400-Betten-Bunkers sind mit sich selbst beschäftigt.
Einen kleinen Verdauungsmoment lang passen sie nicht auf. Ich stehe vor einem Schlachtfeld aus zerrupftem Käse, zerstörter Obstdekoration und einem Löffel mit Heringssalat, der in der Magerquarkschüssel gelandet ist. Aus unbefleckten Zutaten drapiere ich mir eine Schale Müsli mit Früchten zusammen. Die mampfende Rotte bemerkt mich nicht. Ich zapfe mir noch ein pechschwarzes Magenbittergetränk mit dem euphemistischen Namen „Café Creme“, dann schleiche ich unter grässlichem Geschmatze zum hintersten Winkel der Fütterungshalle für Handlungsreisende.
Zwischen den Tischen liegen Serviettenreste, Fetzen von Brotkanten und abgenagte Knochen. Auf den Stühlen gewaltvoll ernährte Kugelmenschen, deren rosige Maurerdekolletés sich auf den Sitzpolstern stauchen. Das psychedelische Teppichmuster verschwindet unter einer Müllschicht aus Essresten und Ausdunst.
Zum Glück gibt es hier noch Menschen, die sich dem aufrechten Gang verpflichtet fühlen: beschürzte Damen und Herren mit Berufsmanieren, die die Illusion der Moderne aufrechterhalten. Ansonsten ist hier Mittelalter.
Pünktlich um 10 Uhr 30 aber legt das Hotelpersonal seine Dienstleistungsmasken ab. Die Kellnerinnen und Ober, die gerade eben noch von wienerischer Freundlichkeit einen guten Appetit wünschten, zeigen die Reißzähne des Vier-Sterne-Horrors: sie überdröhnen mit Industriestaubsaugern die Kirmesmusik aus den Wellnesslautsprechern. Eine Servicekraft mit Kugelstoßerinnenphysiognomie reißt mir die Müslischale vom Tisch und pfeffert mein Besteck krachend in eine Plastikwanne. Aus der Küche röhrt die Geschirrspülwaschanlage. Es riecht nach erhitztem Eiweiß. Das ist ja fast wie ein parfümierter Brief.
Das ungewöhnliche Projekt nennt sich „Meine Symphonie”. Auf der Grundlage von Gesprächen mit Menschen zwischen 30 und 90 komponiere ich einen symphonischen Abend mit Gänsehautgarantie. Hier ist ein schönes Gespräch über das Vorhaben mit der Körberstiftung. Hier ist das Video der ersten Aufführung im Dezember 2022.
Sehr bildlich und wunderbar grotesk beschrieben! Ich habe es eben zu dem Song "Comfort Eagle · CAKE" gelesen und fand das äußerst passend. Danke dafür!