Verehrte Sonntagskindgemeinschaft,
vergangene Woche bekam ich viel Post nach der Kolumne „Goodbye, junger Mann”. Ich muss sagen, das tat gut. Zuspruch hebt das Selbstbewusstsein, da habe ich gleich Lust, herablassend auf Minderbemittelte zu schauen (Fusselbärtige Jazzheinis und frisurferne Barockcellistinnen). Eine unsympathische Charaktereigenschaft! Ich bitte, mir diese nachzusehen, sie kommt aus dem reinen Übermut, der Freude und der Lust an der Zelebration des Lebens. Möge Euer Sonntagsfrühstück ein Fest sein!
Euer Frühstücksliterat
Groteskes Gequatsche
Klingt Jazz für dich wie eine unnötige Fremdsprache, wie zum Beispiel Latein, nur mit außerirdischem Akzent? Wenn das Publikum bei einem Jazzkonzert nach einem Solo applaudiert, fragst du dich, was der Quatsch soll? Wird deine musikalische Geschmackswelt von U2, André Rieu oder Andrea Berg beherrscht, gilt für dich womöglich: Jazz = Strafe.
Die Eingeweihten hören in dem chaotischen Gegniedel allerdings die größten Offenbarungen universaler Klugheit, während du darüber den Kopf schüttelst.
Jede Minute eine neue Meinung
Wenn du nämlich auf Jazz stehst, hast du an diesem Durcheinander die hellste Freude. Dein Körper steht in Flammen, wenn die anderen sagen, zu dem Mist kann man nicht tanzen. Wenn du drauf stehst, ist Jazz wie ein Gespräch über deine Lieblingsthemen. Und du musst dabei ständig deine Meinung ändern, weil es dauernd neue Erkenntnisse gibt. Das Wesen des Jazz ist das Risiko, sagen berühmte Musiker. Billie Holidays Idee von Jazz: bei jedem Mal Singen ein Lied neu erfinden. Wer keine Fehler macht, spielt keinen Jazz, meinten Kenny Barron und Art Blakey, zwei Giganten des Genres. Falls jemand „Definition von Jazz“ googeln möchte: diese Kolumne plaudert sie aus!
Steigender Snobfaktor
Im letzten Sonntagskind war ich derjenige, der den Kopf geschüttelt hat – über ein Konzert einer Jazzcombo, die sich so gar keine Mühe gegeben hat, mich für ihre Sache zu gewinnen. Ich untersuche noch, ob mein mangelnder Zugang zu dem kollektiven Verlegenheitsgedudel im 23/16-Takt damit zusammenhängt, dass mit meinem Älterwerden auch der Snobfaktor steigt.
Der Jazzvertreter
Mit lächelndem Auge denke ich an ein Konzert in einem legendären Jazzkeller am Times Square in New York: die Ed Palermo Big Band! Vor dem Konzert kam ein gutgelaunter Mann an den Tisch, stellte sich mit seinem Vornamen Napoleon vor und wechselte mit jedem von uns Gästen ein paar Worte. Er freue sich, später für uns zu singen, sagte er. Als dann im Laufe des Abends der Bandleader den Sänger Napoleon Murphy Brock auf die Bühne holte, begrüßten wir, das ganze Publikum, unseren neuen Freund mit einer Energie, die man nirgendwo kaufen kann: er hatte uns alle schon vor dem Konzert auf seine Seite geholt – niemand dachte: „was will der komische Vogel mit seinem exaltierten Gesang, und jetzt geht er uns auch noch mit seiner Scheißquerflöte auf die Nerven!“ – er war der Star des Abends, schon bevor er nur einen Ton gesungen hat. Im Laufe der Show konnte er machen, was er wollte – wir liebten ihn. Er hatte uns mit einfachen Mitteln auf seine Seite geholt.
Schüchterne Schätzchen
Nicht jeder ist so ein Kommunikationsgenie wie Napoleon Murphy Brock. Die Bühne gehört auch denjenigen, die im realen Leben keine Worte finden, weil sie zu schüchtern sind, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen oder ihnen „Guten Tag, wie geht’s?“ einfach nicht über die Lippen geht. Vielleicht spielen sie ja genau deswegen Jazz, eine Sprache, in der man sich smalltalkfrei ausdrücken kann.
Akademie-Attacke
In den 90ern lernte ich mal eine Hamburger Klavierprofessorin kennen. Eine weniger akademische Freundin von ihr hat sie in ein Jazzkonzert von mir geschleppt. Wir lernten uns kennen, ich war neugierig und wollte wissen, wie die promovierte Virtuosin meine pianistischen Skills einschätzt. Sie nahm sich für mich eine halbe Stunde in der Hochschule frei.
Pathetische Performance
Ich spielte ihr am Steinway vor, gab mir richtig Mühe. Ich swingte mit aller Leidenschaft durch augenblicklich erfundene Melodien, warf meinen Oberkörper mit Hingabe in wuchtige Akkorde und lebte mich am Flügel großspurig aus, so heftig ich konnte. Schmiss mein Haar im Rhythmus meiner linken Hand durch die Luft und griff in die Tastatur, als ob ich sie animalisch begehrte (die Tastatur). Die apokalyptischen Schlussakkorde schmetterte ich breitbeinig, vorm Instrument stehend, in die Klaviatur, und bebte mit jedem Schlag körperlich mit, bis ich mich zum finalen Basston wieder auf die Klavierbank sinken ließ. Dann beugte ich mich wie eine Katze zu den Tasten und mit einem letzten Zucken spendierte ich dem apokalyptischen Donnern meiner linken Hand einen perlenden Nachklang im Diskant. Allmählich richtete ich mich auf. Bereit, für mein geniales musikalisches Manifest die Segnung der Akademie zu erhalten.
Nach dem ausbleibenden Applaus schwieg die Akademie eine Weile. Eine Ewigkeit später sprach sie das Urteil: „Es sieht zumindest so aus, als ob es gut klingen würde.“
Eine niederschmetternde Bilanz. Aber ich berufe mich auf Oscar Wilde: Der Vater aller Dandys war der Meinung, dass nur oberflächliche Leute die Dinge nicht nach ihrer Erscheinung beurteilen. Das Auge hört mit – am Klang kann ich ja noch arbeiten.
Wer sich selbst einen Eindruck machen will: Mein Song „Fremdgehen”: für richtige Jazzfreaks ist das nur ein banaler Schlager. Für Freunde des banalen Schlagers aber chaotischer Freejazz. Lasst mich in den Kommentaren wissen, was Ihr über den Look meiner sehr verehrten Band denkt:
Jazzkonzerte sind nicht teuer. Aber die Klamotten! Manschettenknöpfe, Seidentücher, Lackschuhe kosten ein Vermögen. Der Autor freut sich über Spenden aus der Leserschaft seiner Frühstücksliteratur:
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Schneller als ein Leserbrief, sexier als ein schwarzes Brett – die Kommentare:
… und ein super Video mit sehr cooler Band!! 🍀🍀🌟🌟 🎶🎶
Weiß nicht wieso. aber war an Hildegard Knef erinnert…