Verehrte Freundinnen, Leser, Freunde und Gefährtinnen,
nach zwei Wochen in Wien stelle ich mich in Bremen der Realität eines neuen Lebenskapitels. Ich werde jetzt gesiezt. Schlimmer noch: ich bin empört, wenn man mich mal nicht siezt. Offenbar bin ich in der Erwachsenenwelt angekommen. Mit der 123. Sonntagskindkolumne beginne ich eine wöchentliche Untersuchung: ist es möglich, bei gleichzeitiger Prachtentfaltung in Würde zu altern?
Ich bin verwirrt. Ich bin so verwirrt wie der Bandleader von der Jazzcombo, die ich gerade im Konzert gehört habe. Er steht mit seinem fusseligen Hemd über der Knitterhose auf der Bühne und guckt halb zur Seite, am Publikum vorbei. „Wenn er das Mikrophon loslässt, fällt er um“, denkt eine Jazzhörerin mit mütterlichen Instinkten. Hat der junge Mann etwa sein Hemd falsch zugeknöpft? Die eine Seite ist ja länger als die andere! Er spricht von dem „Stück“, das er gerade mit seiner Band gespielt hat. Die anderen Jungs stehen dabei rum.
Ist Claire schuld?
Obwohl der älteste von ihnen weißeres Haar hat als zum Beispiel ich, sind es irgendwie Jungs, keine Herren. Ich weiß das genau. Bis vor ein paar Monaten war ich nämlich noch „der junge Mann“. Im Restaurant, an der Supermarktkasse, beim Fahrkartenkauf. Jetzt ist das vorbei, jetzt bin ich „der Herr dort“. Ich glaube nicht, dass es alleine daran liegt, dass ich auf die Farbbehandlung meiner Friseurmeisterin Claire seit einiger Zeit verzichte, es ist etwas tieferes.
Würdeloses Farbenspiel
Claire hat ein paar Jahre lang tapfer einen entschlossenen Kampf für das erblassende Originalschwarz meines Haars gefochten.1 Frisch getüncht sah immer alles bestens aus. Nach einer Weile kippte die Schwärzung aber ins Groteske: klassisches Rentnerinnen-Aubergine war noch der harmloseste Farbton. Schlimmer: Orangemetallic und Gold umschimmern plötzlich den Kopf. Ich googele manchmal „Wechseljahre bei Männern.“ Es muss am Lebensernst liegen, der mich umrankt, dass „junger Mann“ für mich nicht mehr gilt. Aber für den Jazzbengel, er sagt:
Der Soundtrack der Verlegenheit
„Das Stück eben hieß ‚Fernsehen ist doof‘. Äh, genau. Ich hatte nämlich noch keinen Namen, und Fernsehen ist eben doof. Also heißt das jetzt so. Weiß auch nicht. Jetzt kommt ein anderes Stück, das ist auch von mir. Es heißt ‚Tschüß‘. Ist aber noch nicht das letzte Stück.“
Dann gniedelt ein Gitarrenlümmel für sich auf seinem Instrument rum, das er bis fast unters Kinn hochgeschnallt hat. Dazu fiept ein blasser Mützchenträger auf dem Saxophon komplizierte Tonfolgen, beide richten den Blick starr aufs Notenblatt. Manchmal spielen sie gleichzeitig einen Ton. Dann schauen sie sich verlegen grinsend an. So wie Jungs, die beim Überkreuzpinkeln tatsächlich die Urinale treffen. Ich bin verwirrt. Was sollen das denn für Gefühle sein in ‚Tschüß‘?
Stilreiche Blüten der Gesellschaft
Vor ein paar Tagen war ich in der Wiener Staatsoper. Im Foyer stöckeln 70-jährige Grazien in regenbogenschillernden Pailettenkleidern auf strassbesetzten Schuhen durchs Foyer. Ein klappriger Mann in der letzten Lebensphase mit einer hochpreisig angezogenen Vampirfrau mit Wespentaille im Urenkelinnenalter. Eine burschikose Lederhosenfrau mit Kampfstiefeln, ein schultergepolsterter Jüngling mit getuschten Wimpern stolzt einen halben Schritt hinter ihr her. Der einzige Mann außer mir mit einer Herrenclutch! Ich bin verwirrt. Vorhin im Supermarkt: eine Dame mit Mundschutz lässt mich vor, sie hat einen Einkaufswagen voll, ich nur eine Mango und eine Knolle frischen Knoblauchs. Sie lobt meine Clutch – und dann meinen Geschmack. Ich fühle mich geschmeichelt, wir kommen ins Gespräch. Auch die Kassiererin lobt meinen Stil! Ich bedanke mich und wünsche höflich einen schönen Abend. Wie toll, was Menschen vermögen! Freundlich sein, ein paar nette Worte – schon ist die Laune gehoben. „Das ist aber mal ein charmanter Herr“ höre ich eine Stimme. Ist ja gut, ich habe es begriffen, junge Männer sind die anderen.
Oper: noch besser als Golf
Im Internet postet meine eigentlich freigeistige Freundin Maike ihr Verständnis für ganz andere junge Männer: Terroristen, die gerade mehrere tausend Unschuldige niedergemetzelt haben und im Blut der Ungläubigen einen islamistischen Staat erzwingen wollen. Ob sie sich im Klaren darüber ist, dass die wahnsinnigen Mörder mit dem Mittelaltermind von Maikes Lebensstil gar nicht amüsiert wären? Ich bin verwirrt. Von meiner Opernloge blicke ich ins Orchester: an die hundert Leute spielen Richard Strauß, auf der Bühne wird mit allen Mitteln so gesungen, dass der ganze Raum voll Stimme ist. Früher konnte ich mit so etwas nichts anfangen. Da war ich wohl ein junger Mann.
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Verunsichere deine berufsjugendlichen Freunde mit diesem aufrichtigen Text über den Zauber der Lebensmitte:
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Die von dir beschriebenen Farben deiner Haarpracht hätte ich gerne gesehen😂. Wie immer schmunzelnd mit Genuss gelesen. LG aus dem verregneten grauen Bremen.
Mal wieder danke :-) Ja, man muss zum Älterwerden stehen. Es nützt ja nix. Schaut man sich die Stones an bei der Präsentation ihres neuen großartigen Albums, dann ist das der Beleg dafür, dass man auch mit 80 noch cool sein kann. Grey is beautiful and sexy in a special way :-)
Dein Erlebnis beim Jazzkonzert ist symptomatisch. Ich liebe Jazz aber ich fremdel immer mehr mit Jazzmusiker:innen und der ganzen Szene. Im Rahmen unseres Bremer Jazzvereins (www.jazzinbremen.info) versuchen, wir ein wenig, die coolness zurückzubringen. Der Jazz muss raus aus der intellektuellen Hochkulturecke und sich wieder bewusst machen, dass es um Spaß gehen sollte. Mehr Rock'n'Roll bitte, mehr show.
Abgesehen davon, dass nur wenige Jazzmusiker es verstehen, eine eigene Marke zu kreieren, wie z.B. Lakecia Benjamin, so ist ihre Musik doch viel zu oft Masturbation und Schwanzvergleich. Im Grunde Ausdruck einer toxischen Männlichkeit, die auch das von Dir beschrieben schräge Hemd nicht kaschieren kann. Da wird häufig an der Grenze der eigenen Fähigkeiten soliert und die Improvisationen atmen weniger den Geist der musikalischen und spirituellen Verschmelzung und Extase, als das zur Schaustellen der eigenen Leistungsfähigkeit.
Wenn der Jazz überleben will, dann braucht es mehr Eklektizismus, mehr Mut zum Experiment, mehr groove aber vor allem auch mehr Interaktion mit dem Publikum. Ich erinnere mich an Jazzkonzerte in Chicago, bei denen das Publikum Burger gegessen hat. Die Musiker:inne haben sich - anders als viele Deutsche Musiker:innen - nicht darüber echauffiert, sondern sich den Arsch abgespielt, um das Publikum zum erreichen, was ihnen dann auch gelungen ist.
Das Festhalten an den alten Strukturen wird auch von den frustrierten Jazzmusiker:innen verstärkt, die es "nur" in die Redaktionen der Jazzpresse und Radios geschafft haben. Dort wird alles, was irgendwie den Hauch von Eingängigkeit und Popularität hat, abgewertet. Ich erinnere mich an die Reaktionen auf das Motto unseres ersten bremer Jazzpreises "Jazz kann Spass machen!" Die Presse ist damals über uns hergefallen :-)
Jazz does not only smell funny it should be funny.