Freundinnen, Freunde! Nach dem digitalen Downgrade vom letzten Sonntag bin ich noch immer bewegt von der lebensverändernden Kraft des Ausstiegs aus der Smartphoneknechtschaft. Auch heute spielt die Universalgeißel eine gewisse Rolle. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und danke für die vielen Mails und Kommentare.
Man muss das Leben als Komödie sehen, das hilft. Ich habe vor ein paar Tagen an einem Onlineseminar zur Prokrastinationsbewältigung teilgenommen. Der Seminarleiter: ein junger Professor1 aus St. Gallen, der tolle Begriffe erfindet: der Intention-Action-Gap gibt der Kluft zwischen Vorsatz und Handlung einen fancy Namen und macht Lust, sich mit ihm zu beschäftigen. Ich habe vom Seminar eine Bewältigungsstrategie mitgenommen, um die deprimierende Frustration zu vermeiden, wenn ich mal wieder nichts auf die Reihe kriege. Sie heißt „Drei gute Dinge“ und geht so:
Schreib jeden Abend eine Sache auf, die gut war (WAS). Schreibe multisensorisch, gib also nicht nur visuelle Eindrücke wieder, sondern beschreibe auch Gerüche, Akustik und das Körpergefühl. Schreibe dann kurz, wie gut sich das angefühlt hat (WIE). Der nächste Absatz ist der Frage gewidmet, warum das so ein tolles Gefühl war (WARUM).
Das Ganze soll ca. 3 Minuten dauern. Zwei weitere Ereignisse dieser Art, dann ist die Aufgabe erfüllt. Der Professor sagt: Studien versprechen täglichen Aufschreibern ein signifikant höheres Wohlbefinden und eine signifikant niedrigere Depressionsbelastung – das überzeugt mich, ich fang sofort an!
WAS: Kino. Popcornduft und Aufregung im Bauch. Dämmige Teppichakustik und wohlige Ruhe beim Eingleiten in den roten Saal des Delphi Lux in Berlin. Endlich seh ich heute Tár, den tollen Film mit Cate Blanchett als Dirigentin, im Original mit Untertiteln. Links neben mir ein französisches junges Paar, rechts drei Frauen, die im Verlauf des Films zwei Chips- und eine Haribotüte aufreißen. Alle greifen alle paar Minuten nach ihrem Handy und schauen, was sonst noch im Angebot ist.
In den leisen Passagen wird zögerlicher geknabbert. Immer wieder Lichtblitze von Handys im Saal. Hinter mir zappelt jemand mit dem Bein rum, sodass meine Rückenlehne vibriert. Ich lächle mich in eine Art buddhistischen Schutzraum. Ich sitze aufrecht, genieße das Drama und die Musik.
WIE: Eine wohltuende Sehnsucht nach Reichtum umflutet mich wie ein warmes Honigbad. Wenn ich nur genug Geld hätte, könnte ich mir ein Privatkino in meine Villa bauen – ohne Rascheltüten. Handysklaven würde ich nicht einladen.
WARUM: Meine Aufmerksamkeit für digitales Zwangsverhalten ist jetzt besonders hoch, denn ich habe moralische Hochflut: seit drei Wochen bin ich smartphonefrei2. Ich fühle mich frei und stark. Irgendwie überlegen. Nietzsche kommt mir in den Sinn. Wenn der Abspann beginnt, sitzen mehr als die Hälfte in der universalen Social-Media-Versorgungshaltung gebeugt vor ihren Hochkantbildschirmen. Für mich als neugeborenen Übermenschen sind das kulturlose Kretins ohne Rückgrat. Ich verübele ihnen ihre Schwäche nicht, sondern begegne diesen würdelosen Konsumenten ihres eigenen Lebens mit Liebe und Verständnis. Mit einem gütigen Lächeln bedaure ich die willenlosen Wurmmenschen.
Nietzsche denkt im Delphi Lux
„An expressionist oil painting of Nietzsche with a smartphone” (KI-Bild, Dall-E)
Ich binde mir jetzt die Schuhe immer im Stehen zu. Ein paar mal am Tag eine Weile auf einem Bein stehen ist gut für die Balance. Außerdem eine kluge Vorbereitung, um eines Tages im Seniorenheim den „Ministry of silly walks“-Sketch von Monty Python nachzuspielen, ohne zu stürzen und sich die Hüfte zu brechen. Was wäre das sonst für eine erbärmliche Komödie!
„Silly walks”, Anleitung nach John Cleese
Sebastian Kernbach: https://www.lifedesignlab.ch/index.html
Siehe Digitaler Downgrade und Gedankenbabies
Mein letzter Besuch in einem größeren Bremer Kino (Avatar) endete so: vor mir saß ein Typ (mit Begleitung), der sich 3x umsetzte, bevor er zur Ruhe kam. Daddelte auf dem Smartphone und schaute sich während des Films YouTube-Videos an. Meine Beschwerden interessierten ihn nicht, ich war unsicher, ob es noch zu einer Schlägerei kommen würde...
Bitte lade mich in dein Privatkino ein!
Ich verspreche, ich komme ohne Popcorn und Haribo und am Eingang gebe ich mein Smartphone ab!
Ich liebe Deine Kolumne. Immer wieder. Danke dafür.