Damen und Herren, liebe Freundinnen, Gefährten,
danke für die vielen Zuschriften nach meinem letzten Text; ich war mir zunächst nicht sicher, ob der Nachruf über einen Freund, den viele nicht kennen, zu privat wäre. Offenbar hat „Auf ein Glawawa“ aber eine gewisse Wirkung gehabt. Das ermutigt mich. Vor etwa zwei Jahren habe ich begonnen, jeden Sonntag eine Kolumne zu veröffentlichen – mittlerweile freue ich mich, dass das „Sonntagskind“ bei vielen von Euch zur Frühstückszeremonie gehört. Es ist ein schönes Gefühl, mit am Tisch sitzen zu dürfen. Ich bleibe dabei, mit einem liebenden Auge auf das Dunkle in der Welt zu blicken. Heute geht es um Sensibilität und Social Media, zusätzlich lege ich euch eine geniale Geschäftsidee zwischen die Croissants.
Hochsensibel, aber gutgelaunt: der Autor im Hotel Oberkirch in Freiburg.
Seien wir ehrlich: Social Media ist das Grauen. Der Schauspieler Lars Eidinger berichtet von scheuen Kängurus in Australien, die ihn aus der Ferne beobachten. Und von den anderen Kängurus, die sich auf Autobahnraststätten ohne Bedenken an seinem Bein reiben. Einheimische sagen, dass diese Tiere ihren Instinkt verloren hätten, nachdem sie sich aus Mülltonnen ernährten. Der Socialmediaprofi mit 190.000 Followern sieht eine Parallele: wenn wir durch Instagram scrollen, verhalten wir uns wie diese Abfall fressenden Tiere. Jetzt hat er seinen Account gelöscht. Ob er damit eine Welle digitaler Suizide ausgelöst hat, weiß ich nicht.
Das Tastenhandy für Objektfetischisten: Punkt MP02 aus der Schweiz
Mein Leben hat sich nach dem Downgrade vom 1000-Euro-Iphone auf ein Schweizer Tastenhandy jedenfalls schon sehr verändert: Was früher nur der Bilderrahmen für meinen Hochleistungstaschencomputer war, zeigt sich wieder als aufregende Welt – und ich erlange meine Würde wieder. Nicht mehr buckelig an der Straßenecke stehen und E-Mails tippen. Nie mehr reflexartig in die Tasche greifen, wenn die Verabredung im Restaurant im Bad verschwindet. Stattdessen die Tapete studieren, Gespräche am Nebentisch einfangen, Atmosphäre erleben – und schaffen.
Hier wird „Sonntagskind” gelesen: Frühstückstisch von Familie Neff in Hamburg
Das ist auch viel besser für mich, denn ich ertrinke sonst in den Reizfluten der Dauerverfügbarkeit. Mir fehlen die Filter, ein Test bringt’s ans Licht: ich gehöre zu den Hochsensiblen. Die Psychologie ist sich noch nicht einig, ob die Charaktereigenschaft der Prinzessin auf der Erbse einen eigenen Begriff verdient hat. Man weiß aber, dass Sensibilität in verschiedenen Stufen vorkommt und angeboren ist. Ich bin zum Beispiel so dermaßen hypersensibel, dass ich als Kind dachte, ich würde „Stell dich nicht so an” heißen.
Der Ausstieg aus der Smartphoneknechtschaft war gar nicht so leicht. Im Telekomshop schilderte ich mein Problem, mit dem Gerät in der Hand: „Zu diesem Gegenstand habe ich mehr Kontakt als zu mir selbst. Hilfe!” In diesem Augenblick war mir klar, dass ich mich wie ein Junkie verhalte, der seinen Dealer fragt, wie er clean werden kann.
Die freundliche Verkäuferin pries dann Apps an, mit denen man sein Smartphoneverhalten kontrollieren kann und meinte, das neueste Iphone würde meine Probleme lösen.
Ich habe mich schließlich mit bloßer Willensstärke aus den Klauen des digitalen Kloakenkraken befreit. Einmal am Tag den Laptop aufklappen und auf Facebook schauen erscheint mir ungefährlich. Das altmodische Forum hat ja auch Stärken: vor ein paar Tagen bat ich die Gemeinschaft, mir einen Steuerberater zu empfehlen. Minuten später hatte ich Telephonnummern – das ist herrlich! Instagram arbeitet viel perfider: es ist schön zu sehen, was Freunde und Kollegen mit Entertainmentfähigkeiten dort unternehmen. Ich freue mich zum Beispiel über die genialen Miniaturdramen der Schauspielerin Caitlin Reilly, die ich dort entdeckt habe. Und über alles, was Thees Uhlmann postet, weil es sich anfühlt wie eine herzliche Umarmung mit Worten. Die Sängerin Luce Ireland parodiert Gesangsstile, Bestsellerautor Peter Prange schreibt kurze Texte über diabolische Orgienpackungen Haribo und mangelhafte Deatiltreue an Originalschauplätzen seiner Romane.
Das Problem ist nur: diese publizistischen Leckerbissen verstecken sich zwischen dem Geschrei von Investmentgurus, Fitnesscracks und Coaching-Genies, die sich an dich wanzen wie Koberer auf der Reeperbahn. Da sind Filmaufnahmen von Wahnsinnigen, die mit einem Fledermausanzug durch Schluchten fliegen. Clips von Parcoursgöttern, die Wände hochlaufen, zwischendurch Überwachungskamera-Aufnahmen couragierter Omas, die Einbrecher vermöbeln. Alles also vielzuviel, vor allem für Sensibelchen wie mich. Darum hier endlich die geniale Geschäftsidee: wie wäre ein persönlicher Sensitivity Reader für die eigenen Social Media-Accounts? Zum Frühstück bekommt man ein Dossier mit den guten Sachen. Von einer kunstwissenschaftlich geschulten und journalistisch firmen 450-Euro-Kraft aus der Müllflut aller Beiträge auswählt. Kängurus gelten eigentlich als die Einsteins unter den Tieren. Mit ein bisschen Training können die das vielleicht übernehmen, ich biete erstklassige Ernährung.
P.S.: Einen Hochsensibilitätstest gibt es hier.
Was für ein super Text!! Und so wahr… die Selbstmordrate unter Teenagern soll in den USA erheblich gestiegen sein, seit es Instagram gibt.. weil man in Wirklichkeit halt nicht so aussehen kann wie nach der Bildbearbeitung durch „Snow“. 🙈
Das Video von Lars Eidinger habe ich auch gefeiert, er bringt es auf den Punkt!💥 vielleicht bräuchten wir doch mal einen ordentlichen Blackout, damit alle zwangsweise einen Entzug machen müssen… 🤪
In meinem Jahr in Australien sah ich viele Beuteltiere. Die hochsensiblen Platypus waren am Faszinierenden. Sie Legen Eier, säugen aber den Nachwuchs, zwar nicht im Beutel, aber so ähnlich - ohne Brust - und haben Flossen wie eine Robbe aber einen Schnabel wie eine Ente. Sie schlafen am Tag und in der Nacht fangen sie Wassertiere. Sehr scheue, aber spannende Wesen. Ich wage zu vermuten, dass die Meisten Künstler so sind. Das mit dem Erfolg und Reichtum sie eigentlich oft nur kaputt macht. Auf mein 100€ Smartphone kann ich aus sozialen Gründen aber nicht verzichten, sonst lande ich in der Isolation... Danke für die Kolumne, immer wieder Sonntags! J.M. Weserkind