Das Psychogramm einer Jacke
Die gepanzerte Psyche. Jack Wolfskin und der Elefant im Porzellanladen
Ins Theater kann ich als hypersensibler Zwangscharakter nicht mehr gehen. Vor ein paar Monaten in der vollbesetzten Volksbühne: neben mir zwei freie Plätze. Nach dem dritten Gong ächzt sich noch ein Paar durch die Reihen. Nicht nur, dass die beiden eine Rascheltüte Erdnussflips dabei haben, sie gehören zu den 43% der Deutschen, die mir Angst machen. Nicht, weil sie die AfD mögen, Gewalt gegen Arbeitslose okay finden oder der Meinung sind, dass die NATO schuld am Krieg in der Ukraine ist. 43% der Deutschen besitzen eine Jack-Wolfskin-Jacke. Die Gesichter der beiden expeditionsbereiten Theaterkunden verstecken sich in von Fell umrahmten Löchern ihrer nachttischgroßen Kapuzen. Obwohl ich aufgestanden bin, um sie durchzulassen, schleift das grobe Nylon ihrer übergroßen Panzerjacken über meinen Körper.
Endlich hingesetzt, beginnt die Klettverschluss-Ratsch-Orgie. Eine Jack-Wolfskin-Jacke lässt sich nicht einfach so lautlos abstreifen und über den Oberschenkel legen. Sich aus ihr zu befreien ist ein Schauspiel für sich. Inszeniert von den übelsten Kräften aus dem Innersten der Volksseele.
Stell dir bitte vor, dass deine neue Sonntagskindkolumne in dieser Gestalt vom Butler auf einem leicht patinierten silbernen Tablett geliefert wird. Das hab ich für euch in Photoshop gemacht.
Die Jack-Wolfskin-Jacke ist tief drin in der Gesellschaft. 43% sind mehr als einfach nur ein kollektiver Textilirrtum. In jeder Jack-Wolfskin-Jacke muss ein starkes Bedürfnis wohnen, wenn soviele Leute bereit sind, ihre Gestalt einer konturvernichtenden Panzerung zu opfern. Kleidung ist aber nur eine Ebene, auf der man zum Elefanten im Porzellanladen werden kann:
Italienreise. Bin bei einem Schlachter und will ein paar Scheiben Parmaschinken kaufen. Meine minimalen italienischen Sprachkenntnisse sind mir peinlich, ich bemühe mich trotzdem, mit Ramazzottiwortschatz Respekt zu zeigen. Der Fleischer schwärmt von seinen Florentinersteaks. Ich klebe an seinen Lippen und versuche, ihn zu verstehen, da platzen eine dicke Frau und ein dicker Mann herein. Er zeigt auf eine Wurst in der Auslage und brettert mit Schmetterstimme und teutonischem Waffenhändler-Sexappeal dazwischen: „Ey, wosch isse desch do?“, frei von jedem Lächeln, mit dem vorwurfsvollen Blick, der sagt: „Du schuldest mir eine Information, Freundchen!“ Ich spüre den Reflex, den Italiener in den Arm zu nehmen, und ihm zu erklären, dass das nur zwei Wahnsinnige mit Kinderhändler-Ausstrahlung sind, die aus einem eigentlich sehr freundlichen und menschenliebenden Land kommen. Der Fleischexperte widmet sich den beiden Grobianen aber mit derselben aufgeschlossenen Hingabe, die ich erfahren durfte. Theater, Italien, Elefanten überall, auch auf der Straße. Folgende Szene:
Mit bleckenden Kühlerzähnen und hängenden Pokerface-Haubenschlitz-Mundwinkeln glotzt mich der panzerblechige Brocken an. Ein SUV. Ein Riese mit den Proportionen eines Säuglings verbreitet auf viel zu kleinem Raum viel zu große Gefühle: Warum suchen sich immer mehr Leute Privatautos aus, deren Anblick mit der Bedrohlichkeit von Militärfahrzeugen mehr gemein haben als mit der Eleganz einer klassischen Limousine? Oder dem knuffigen „Passt-schon“-Style von Käfer, Ente, Beetle,Twingo, Panda? Die Antwort ist so simpel wie aufrüttelnd: sie suchen Streit. Sie wollen die Konfrontation. Sie halten sich kraft ihrer erkauften PS-Potenz für überlegen und es gefällt ihnen, das zu zeigen. Für psychologisch empfindsame Verkehrs-User wie mich ist ein SUV eine Kampfansage. Ich beobachte an mir selbst im Auto, dass ich so eine klotzige Stahlramme mit Gangstermattlackierung nicht gerne einbiegen lassen will, sie macht mich aggro. Ich tu’s dann doch, schließlich will ich gemocht werden. Dass in dem aufgeblähten Motormonster eine Frau lächelnd zum Dank winkt, ist nur eine perfide Pose. Wenn es hart auf hart kommt, verwandelt sie sich in eine mimiktaube Killerin, die sich ihre Umgangsformen von Prigoschinvideos abgeschaut hat.
Der Künstler Erwin Wurm macht sich mit dem Fat Car über aufgeblasene Egos lustig, die er in einen Zusammenhang mit dem Kauf übergroßer Stadtautos bringt.
Photo: Wikimedia Commons
Der SUV ist die Jack-Wolfskin-Jacke des Straßenverkehrs. Solange sich der Klimawandel in Richtung höherer Temperaturen bewegt, schlage ich vor, Jack-Wolfskin-Jacken sofort durch Leinenanzüge zu ersetzen. Ich denke, dass man gut angezogen automatisch ein bisschen rücksichtsvoller und freundlicher wird. Die Italien-Einmarschierer in ihrer Touristen-Gefechtskleidung hätten in Sommerkleid mit Pumps bzw. Einreiher mit Rauleder-Loafern sicher geschmackvollere Konversation mit dem Schlachter betrieben. Und Fahrzeuge, die Angst machen, braucht man nur an Halloween.
Wer sich mit dem sanften Ton modischer Erziehung der Frage widmet, welche Kleidung welchem Anlass angemessen ist, ist Ben Bernschneider.
Ben Bernschneider: Volksschule der Mode auf Instagram
Seit ich mich an seinen Reels erfreue, bin ich ganz heiß darauf, mir endlich einen Burberry-Trenchcoat zu besorgen. Mit der Empfehlung für diesen stilsicheren Gentleman will ich euch einen herrlichen Sonntag wünschen und freue mich, wenn ich nächste Woche wieder mit frischen Sonntagskindzeilen auf eurem Frühstückstisch liegen darf. Herzlicher Gruß,
Euer Mark, zu Beginn eines neuen Lebensjahrs
Als 14jähriger verbrachte ich einen Sommer in London. Dort hing ich den ganzen Tag im Covent Garden ab: Straßenmusiker, Comediennes, Artisten, Jongleurinnen – ich war fasziniert. Es waren hunderte Leute da, es war wie Theater, nur draußen und ohne schlechte Laune. Am Ende ihrer Darbietungen brachten die Künstler flotte Sprüche, um die Begeisterung des Publikums in Geldspenden zu verwandeln. Dann landeten je nach Geschick mehr oder wenige zusammengefaltete Scheine und Münzen in den Hüten. So etwas will ich auch mal machen, dachte ich damals! Das mit der Straßenmusik ist nicht richtig was geworden, so ein Flügel ist einfach zu unhandlich. Mit meiner Sonntagskindkolumne auf euren Frühstückstischen zu sein – per Tablet, Laptop oder ausgedruckt, ist auch ein bisschen Covent Garden, mittlerweile wird jede Kolumne von etwa 900 Leuten ca. 1000 Mal gelesen.
Ich trau mich jetzt mal: wenn du gerne Sonntagskind liest, hast du vielleicht Lust, mir etwas in den Hut zu werfen. Mit dem PayPal-Button ist das ganz einfach. Ich danke! Bis nächsten Sonntag!
Wirklich! 43%, lies es selbst:
Für leidenschaftliche Sonntaskind-Leserinnen ist es ganz normal, sich aufhetzen zu lassen. Fakten runden die Stimmung ab:
P.S.: Es gibt noch eine weitere Sonntagskindkolumne mit modischem Fokus:
Die generische Handtasche
Ich war früher mal Ballettrepititor im Theater. Da habe ich jeden Morgen 90 Minuten die Tänzerinnen und Tänzer am Klavier begleitet. Die Balletmeisterin kam aus London, vom Royal Ballet, sie war sehr streng. Nach meinem ersten Arbeitstag knallte sie mir einen Stapel Noten auf den Flügel und sagte: „Übe dies!“. Ihr missfiel, dass ich die ganze Musik impr…
Zwei weitere Fashionkolumnen aus meiner Zeit im Hotel:
Viel Spaß beim Lesen! Und jetzt noch schnell deine Meinung, bitte: