Liebe Freundinnen, Leser, Abonnierende,
vor ein paar Tagen hatte ich ein Konzert in Hamburg. Es war der Abschluss eines Projekts, das eine Stiftung in Auftrag gegeben hat, die die Verbesserung der Gesellschaft im Sinn hat. Sie tut einiges dafür, dass man mehr miteinander redet als übereinander.
Ich habe einem Dutzend Hamburger Senioren, Damen wie Herren, die Frage gestellt: Was in deinem Leben ist symphonisch? Wo ist das Drama, wo hat sich in deinem Leben Mangel in Fülle verwandelt, Schmerz in Glück? Die unterschiedlichen Erzählungen, die ich dann in Einzelgesprächen zu hören bekam, bildeten die Grundlage meiner Komposition für Orchester und Gesangsquartett.
Eine pensionierte Schulleiterin beschreibt einen Leidensweg, der mich beeindruckt: Sie sollte nach der Volksschule eine Lehre zur Stenotypistin machen – nur ihr Bruder durfte aufs Gymnasium. Widerwillig unterwarf sich die kleine Wilma der Bevormundung. Später holte sie ihr Abitur nach, sprengte die für sie vorgesehenen Fesseln und wurde schließlich Chefin einer Berufsschule.
Wilma Elsing mit dem Orchester Musici Emeriti. Photo: bergedorf.tv
Ich stellte mir beim Komponieren den von ihr so schmerzhaft beschriebenen Saal voller junger Mädchen an Schreibmaschinen vor, die mit verbundenen Augen zur Stoppuhr in ihre Buchstabentasten hämmerten. Dann schrieb ich ein dissonantes Stakkato ins Klavier, dazu hart gezupfte Streicher und eine Triangel, die gelegentlich an das penetrante Glockensignal einer neuen Schreibmaschinenzeile erinnert. Wilma berichtet von ihrer Befreiung – und von der Begegnung mit einer Gruppe Jungs aus Syrien, denen sie 2015 die deutsche Sprache nähergebracht hat. Außerdem wollte sie in ihnen das Vertrauen wecken, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. So wie sie es geschafft hat.
Solche Vorgänge zu vertonen, macht mir unglaublichen Spaß: die richtige Musik zu finden, die die vielen und manchmal sich widersprechenden Emotionen und Gedanken erfahrbar macht.
Eine andere Geschichte erzählt Herdegül: Anfang der 1970er Jahre kommt sie mit ihrem Mann aus einem kleinen türkischen Dorf nach Hamburg. Sie sind beide gerade mal 19 Jahre alt. Man nennt sie Gastarbeiter. Während ihr Mann schon eine Anstellung hat, ist Herdegül noch eine Weile ohne Arbeit. Sie verbringt viel Zeit alleine in der Wohnung und erlebt die neue städtische Umgebung als beängstigend.
Herdegül Baran im Lichtwark Theater in Hamburg-Bergedorf. Photo: bergedorf.tv
In dieser Zeit traf man in Hamburg gelegentlich Menschen, die auf freien Plätzen aus Wohnwagen und Zelten kleine mobile Dörfer bauten. Man nannte sie abschätzig Zigeuner. Ich erinnere mich selbst: in meiner Bremer Kindheit in den Siebzigern saßen manchmal Frauen mit Goldzähnen am Wegesrand und boten meiner Mutter an, ihre Zukunft aus der Hand zu lesen. Männer mit dunklem Teint spielten auf Gitarre, Geige und Akkordeon eine irre Musik, die mich an die Jazzplatten meines Vaters erinnerte. Der 19jährigen Herdegül wurde gesagt, dass man vor diesen Leuten Angst haben muss. Man erzählte Horrorgeschichten: von der Wäscheleine geklaute Klamotten, entführte Kinder, Vergewaltigungen. Herdegül steht jetzt, 50 Jahre später, auf der Bühne und holt uns in die alte, fremde Zeit. Sie lässt das 19jährige Mädchen sprechen, das zuhause in eine Angststarre fällt, weil jemand unaufhörlich an der Tür klingelt. Sie glaubt, dort steht einer dieser Leute – und dass ihre Zeit gekommen ist. Für mich als Komponist ist das traumhaftes Material: Angst, Unterstellung, die Penetranz einer Türklingel, Ausweglosigkeit und die rassistischen Mantras der Vergangenheit.
Dieses Lokal am Berliner Kurfürstendamm gehörte dem in Ungarn geborenen Gastronom Karl Kutschera, bis ihn die Nazis enteigneten. Er überlebte den Holocaust, seine beiden Kinder wurden in Auschwitz ermordet.
Ich schreibe eine Orchestermusik, die das Gefühl, fremd zu sein, und die Ohnmacht aufnimmt. Dem Gesangsquartett komponiere ich die Ressentiments der Nachkriegszeit in die Partitur, so wie ich sie von keifenden Witwen im Ohr habe: „Hol die Kinder ins Haus, die Zigeuner kommen!“
Noch in der Nacht des Konzertes schildert mir ein Konzertbesucher auf Instagram seine Bestürzung über das Z-Wort und darüber, dass die Gesangstexte offenbar von niemandem aus der Körberstiftung rassismuskritisch und diskriminierungssensibel gegengelesen wurden.
Seine Kritik löst gemischte Gefühle in mir aus; natürlich weiß ich um den schaurigen Effekt, den das Z-Wort auslöst – genau den suche ich als Komponist, um den Schrecken erfahrbar zu machen, der hinter einer gewaltvollen Vokabel lauert, die noch vor kurzem gang und gäbe war. Hebt ein Schauspieler auf einer Theaterbühne oder im Film den rechten Arm zum Hitlergruß, geschieht das (hoffentlich), um an das Grauen einer beispiellosen Gewaltdiktatur zu erinnern. Unterhaltung, die sich schmerzvollen Themen widmet, bleibt seicht, wenn sie dem Horror keine Gestalt gibt. Kunst ist frei – für mich leitet sich aus dieser Freiheit zunehmend eine Verantwortung ab: ich will die Freiheit nutzen und mit meiner Musik dorthin gehen, wo es wehtut. Um dann den Schmerz in Trost und Hoffnung zu verwandeln – denn das kann Musik.
Ich bin mir nicht sicher, ob alle diskriminierungssensiblen Bemühungen den Effekt haben, Diskriminierung zu reduzieren. Die Logik, Gewalt nicht zu erwähnen, weil Gewaltopfer an ihre Traumata erinnert werden, leuchtet mir in der persönlichen Begegnung ein. In der Kunst müssen wir die Realität spiegeln können – gegen das Vergessen.
Ich bin froh, dass ich die Körberstiftung beim Wort nehmen kann: sie macht die Gesellschaft besser, indem sie genau diese Spiegelung ermöglicht. Ich muss meine Kompositionen und Texte keinem Komitee vorlegen, das dann den letzten Schliff vornimmt. Zum Glück ist so etwas in Deutschland Vergangenheit.
Das ganze Konzert „Meine Symphonie” – mit Wilma, Herdegül und all den anderen –lässt sich hier anschauen.
Lieber Mark, danke für diese Betrachtung. Sensibilität ist wichtig aber wenn wir die Konfrontation aus der Kunst entfernen, dann wird sie beliebig und wir nehmen ihr die Wirkmächtigkeit. Gerade die schlimmen Dinge der Geschichte müssen be- und aufgearbeitet werden. Und dazu muss auch die Darstellung und manchmal auch die Provokation gehören. Wir müssen uns auch erlauben, zu verstören. Wenn in einem Stück oder Buch ein böser Mensch dargestellt werden soll, muss der sich auch böse benehmen und äußern, sonst können wir auch gleich nur noch wohlmeinende Charaktere darstellen, Wie soll das in einer Story aus der Nazizeit, einem Buch über Sklavenhaltung, Kolonialisierung, Sexismus, Unterdrückung oder über Alltagsrassismus funktionieren? Würde es ein Charles Bukowski heute noch durch ein sensitivity Lektorat schaffen? Es muss Unklarheiten, Grautöne und auch Grenzüberschreitungen in Literatur, Musik und anderen Kunstformen geben, wenn wir sie nicht entwerten wollen.
Was nicht mehr vorkommt, wird vergessen und dass dürfen wir den vielen Opfern nicht antun. Daher lasst uns auch sensibel mit der Sensibilität umgehen, sonst schütten wir das Kinde mit dem Bade aus und richten Schlimmes an, obwohl wir es nur gut meinen und das richtige tun wollen.
Das ist so ein schönes Projekt! Unglaublicherweise hatte ich eine ähnliche Idee für einen Roman, wo eine Geigerin aus den Geschichten, die ihr erzählt werden, improvisiert … Hab mich immer gefragt, ob das auch wirklich geht — jetzt weiß ich: offensichtlich sogar sehr gut!!🍀🍀🍀