Richard Wagner hat Seide und Samt durch seine Hände gleiten lassen, weil er den haptischen Kick brauchte, um Musik zu komponieren, die einen umhaut. Mal sehen, ob mir das auch gelingt! Ich ziehe also den schweren Samtvorhang der Jugendstilsuite im Hotel Art Nouveau in Berlin durch meine Handfläche und schließe die Augen. Noch will sich kein Zauberklang wie der Tristanakkord oder das apokalyptische Gebretter des Walkürenritts in meinem Geistesohr hören lassen. Noch nicht mal wagnerische Libretto-Alliterationen wie „Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagalaweia!“, die der Sound-Erotoman aus Sachsen der von ihm erdachten Woglinde in den Sopran singenden Rheingoldmund gelegt hat.
Stattdessen höre ich den Bauarbeiter im Gerüst vom Haus gegenüber. „Jibma den Fuffzehner runter, du Flitzpiepe.“ Könnte er den Kollegen doch wenigstens in Versen um den 15er Schlüssel bitten, so zum Beispiel: „Verehrter Geselle, Gefährte am Seil, reich mir das Werkzeug rasch her. Den eisernen Helfer zur Schraubung ein Weilchen zu nutzen, das ist mein drängend Begehr’!“ Worauf der Kollege dem Anderen nicht Schläge anbietet, sondern entgegnet: „Den Schlüssel zu finden sei mir nun Diktat. Ich eile zuhilf, teuerster Kamerad!“
Dieser würde das schwere Gerät auch nicht mit „Na also, jeht doch, du Arschjesicht!“ entgegennehmen, sondern rufen: „Ein Suchender war ich, bis du mir erschienst. Am Morgen noch wühlend in Kästen und Kisten, zur Dämmerungsstunde in dunklem Geräum. Nun will ich zum Dank dir im dauernden Bunde Gefolgschaft erweisen und ewigen Dienst.“
Ich weiß, dass ich träum. Dass sich die robuste Realität nicht durch Betatschen einer Gardine in ein poetisches Paradies verwandelt. Also müssen andere Kaliber her: der Samtvorhang ist dermaßen 19. Jahrhundert, er eignet sich wirklich nicht als Inspirationstool für zeitgemäßes Songwriting!
Auf dem Art Deco-Tischchen liegt allerdings ein Manuafactum-Katalog: das Druckerzeugnis, an dem man riechen möchte. Im Format einer Illustrierten, mit dem Gewicht einer Tagesdecke aus Brokatstoff. Der geniale Slogan „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ schießt mir sofort in die Tränendrüse und ich will sofort das Wählscheibentelefon aus Bakelit haben, dessen Kabel mit Baumwoll-Eisengarn umwickelt ist. Und das Stehpult mit Rindslederbespannung für den Monatslohn einer Opernsängerin! Augenblicklich will Wohlklang komponiert werden, wuchtige Wogen wabern in Wellen von Ohr zu Ohr, Orkane orgiastischer Oden offenbaren sich opulent.
Zum Glück ist Manufactum nicht weit: Wie ein Mahnmal für Lebensgüte steht das Geschäftshaus des Händlers sinngetränkter Qualitätswaren am Ernst-Reuter-Platz.
Bei Manufactum angekommen, entscheide ich mich aus Budgetgründen gegen das Stehpult und das Wählscheibentelefon. Das Notizbuch der belgischen Firma „Atoma“ finde ich schlicht genial: Das A4-Papier ist bündig mit 11 Löchern versehen, die zum Rand hin geschlitzt sind. Die Löcher dienen Metallringen zur Befestigung, sie sind die Wirbel, die dem Buch sein Rückgrat geben. Zugleich hält das Buch die Ringe fest. Ein leuchtendes Beispiel gegenseitiger Notwendigkeit und sinnvoller Abhängigkeit – wie bei Wagner, der die Sprache in Klang verwandeln und die Musik sprechen lassen wollte.
Für den Gegenwert einer Übernachtung im Hotel Art Nouveau plus Abendessen kaufe ich auch noch den Spezial-Locher fürs Atoma-System. Ich schätze, dass Richard Wagner seinen Gönner König Ludwig noch zur Finanzierung eines Manufactumladens auf dem Grünen Hügel in Bayreuth überredet hätte, wenn es diese Händler kultivierter Waren schon 1876 gegeben hätte.
Der freundliche Komponist mit einem Notizbuch von Atoma, bei Manufactum erworben.
Foto: Martin Peterdamm
Ob mein Song „Blaue Stunde“ die Folge eines lustvollen Fummel-Rendezvous mit dem Manufactumkatalog ist, will ich aus Gründen drohender Entmystifizierung des künstlerischen Schaffens lieber im Dunkeln lassen. Ich möchte Manufactum aber von Herzen empfehlen, mit diesem romantischen Chanson sein hochpreisiges Sortiment aus Schreibwaren und Bibliotheksmöbeln um „Musik“ zu ergänzen. „Es gibt sie noch, die guten Lieder“ ist gar kein schlechter Slogan für neue Tracks, deren Noten mit der Feder geschrieben werden. Geneigte Lesende können das durch Anklicken des folgenden Bildes überprüfen.
Wer Lust hat, meiner sonntäglichen Frühstücksliteratur finanziell zu begegnen, braucht kein schlechtes Gewissen zu haben und kann sich ein bisschen wie König Ludwig fühlen. Und ich mich ein bisschen wie Richard Wagner.
Sehr gerne werde ich auch weiterempfohlen, solange Sontagskind noch ein Geheimtipp ist:
Wer Sonntagskind noch nicht abonniert hat: jetzt ist der richtige Augenblick:
Weder vom Fummeln, noch von geistlosen Sachen möchte ich in meinem Beiträge erzählen. Wollt ein Künstler doch haptischen Hochgenuss wählen, der ihn in Trab, Tölt oder gar Galopp, bringt ihn zum Chef d'oevre , und zwar sehr flott. Dann nehm er seine zärtlichste Hand und streiche ganz ohne Bogen, aufrichtig, dem Wesen zugeneigt und ungelogen, aufstrebend nach oben oder erdend verkehrt, über das Fell des Isländer Pferd. Wenn sich andere ergötzen an Haut vom toten Tier, ihre Werke legendär sind von jenseits bis hier, wie kunstvoll umwaeltigend, bewegend und schwebend klingt erst das Gut, das auf energetischem, lebenden Leben beruht. Schenkt uns doch einfach alle Kunst, fummelt an Sachen, liebkost ein Pferd oder wer gierig nicht nur allein Zuneigung begehrt, der gibt sich hin zu Artgenossen und hält den Kern seines Werks umschlossen.
Doch Vorsicht, erlebst du den Haptik-Kick ist der Weg sehr kurz zum Haptik-Tick!!