Meine Damen und Herren, ich habe mir für die Prognose der Präsidentschaftswahl in den USA alle erdenkliche Mühe gegeben1. Mit sämtlichen Mitteln der Zukunftsschau bin ich tief in die Erkenntnis der vor uns liegenden Zeit gegangen. Als verantwortungsbewusster Prophet ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, seriös und zuverlässig die Zukunft vorauszusagen.
Wie aber soll ich meiner Leserschaft eine Realität zumuten, die sich einfach nicht an meine Vorgaben hält? Bei einer solchen Verhinderungshaltung sind mir als Prognostiker die Hände gebunden. Darum habe ich heute meinen inneren Präsidenten gebeten, den Realitätsminister mit sofortiger Wirkung zu entlassen. Ich sehe mich zu diesem Schritt gezwungen, um Schaden von dieser Kolumne abzuwenden, darum ging es mir in den vergangenen drei Jahren. Darum geht es mir jetzt.
Ich habe dem Realitätsministerium heute Mittag noch einmal ein umfassendes Angebot vorgelegt, mit dem wir die Lücke zwischen Vorhersage und Wirklichkeit schließen können, ohne die Sonntagskindheit ins Chaos zu stürzen. Nach der Wahl in den USA sendet das ein ganz wichtiges Signal: Auf Sonntagskind ist Verlass. Ich muss jedoch abermals feststellen, der Realitätsminister zeigt keinerlei Bereitschaft, dieses Angebot zum Wohle unserer sonntäglichen Zusammenkunft in der sogenannten Wirklichkeit umzusetzen. Ein solches Verhalten will ich der Frühstücksliteratur nicht länger zumuten. Liebe Leserinnen und Leser, ich hätte Ihnen diese schwierige Entscheidung gern erspart. Erst recht in Zeiten wie diesen, in denen die Unsicherheit wächst.
Mittlerweile wissen wir, ich beziehe mich hier auf einen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. November, dass Amerikas Hexen immerhin versucht haben sollen, meine Prognose aus dem Äther der Vorausschau auf den Boden der Tatsachen zu holen. Die Hexen klagen über einen massiven Bann um Donald Trump, der jeden Zauber bremst.
Durch regelmäßige Zuwendungen weitsichtiger Sonntagskindleserinnen und -leser besitze ich einige Zeitungsabos. Mit großzügigen Spenden garantieren diese verantwortungsvollen Menschen eine stets informierte und überdurchschnittlich gebildete Sonntagskind-Redaktion.
Sollte sich hinter dem Link zur FAZ also eine Bezahlschranke auftun, kann ich nichts tun. Ich hörte allerdings von Kriminellen aus meiner Nachbarschaft am Stuttgarter Platz in Berlin, dass sich fast jede beliebige Zeitungsseite im Internet mit einem Trick aufrufen lässt. Hassan, ein hier ansässiger „Geschäftsmann” sagte mir: „Bruda, musstu in Internet oben vor den Adress von Webseit was eintippen. Also vorher verstehstu? Da muss stehen archive.is und dann den Slash, also so: archive.is/ dann Link von Zeitung.” Keine Ahnung, ob das geht, aber die Jungs hier vor der Tür erzählen eigentlich keinen Scheiß.
Ich abonniere von eurem Geld FAZ, SZ, Tagesspiegel und die ZEIT. Soll ich noch den Spiegel, die NZZ, die Taz, die Gala und die BRAVO dazunehmen, um zu gewährleisten, dass Sonntagskinds Recherchehorizont immer top ist? Dann gebt mir doch etwas ab von den Bitcoingewinnen der letzten Tage: 💛
Wer mich kennt, weiß, dass ich nicht anderen die Schuld gebe, wenn mir etwas nicht gelingt. Da ich mich als Prophet aber auf gewisse übersinnliche Selbstverständlichkeiten verlassen können muss, ist es an der Zeit, am Hexenkollektiv Kritik zu üben. Womöglich geht mein Scheitern als Nostradamus der Gegenwart auf das Konto der diabolischen Druden. Schließlich sind die Schwarzmagierinnen für eine Vielzahl von Problemen verantwortlich zu machen: Sie sorgen für Ärger unter Kindern, Päpsten, Popstars, beautybewussten Leuten, ambitionierten Kunstmalern, begrifsstutzigen Kiffern und Konsumentinnen harter Drogen sowie Metalfreaks. Aus Solidarität mit den Hexenopfern bitte laut lesen:
Du kommst nicht zur Ruhe, du kannst nicht relaxen?
Das liegt nicht an Dir, schuld sind Hexen.
Du wirst nicht betrunken beim Schnäpse exen?
Das liegt nicht am Koks, schuld sind Hexen.
Du kriegst Paranoia im Rauch von Gewächsen?
Das liegt nicht am Kiffen, schuld sind Hexen.
Du denkst, war ja klar, dass der stirbt: Michael Jackson,
das war nicht der Arzt, das war’n Hexen!
Du hast schlimme Schmerzen beim brasilianischen Waxen?
Du bist kein Weichei, schuld sind Hexen.
Dein Kind hat im Zeugnis lauter Sechsen?
Das liegt nicht an der Lehrerin, schuld sind Hexen!
Du würdst so gern malen, doch kannst nur klecksen?
Dir fehlt nicht das Talent, schuld sind Hexen!
Bist nicht grad Schweinchen Schlau, du gehörst zu den Perplexen?
Schäm dich nicht, mein Freund, schuld sind Hexen!
Als Kirchenchef misst du dich mit den and'ren Pontifexen?
Zweifle nicht an dir, schuld am Groll sind Hexen!
Dein Musikgeschmack ist schlecht, du hörst die Metal-Band Saxon?
Du bist nicht niveaulos, schuld sind Hexen!
Der Chef der USA ist zerfressen von Komplexen,
doch schuld daran sind ausnahmsweise diesmal nicht die Hexen.
Mit diesen rhythmischen Worten will ich Euch einen wundervollen Sonntag wünschen. Möge er frei sein von Vorwürfen, Schuldzuweisungen und Gewissensbissen – stattdessen durchwoben von Zuversicht.
Bis nächsten Sonntag
Euer
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Die 163. Sonntagskindkolumne war eine treffliche Voraussage der Präsidentschaftswahl in den USA. Dass die Prognose in ihrer Realisierung nicht ihren natürlichen Verlauf nehmen konnte, ist ein Dilemma. Bitte nachlesen: