In Berlin findet sich der vornehme Palais in derselben Nachbarschaft wie die verwahrloste Anarchist*innen-WG. Ein Beautysalon für Millionärinnen liegt gleich neben der Gaststätte mit dem Namen „Klo“, in dem sich Ausscheidungsfetischisten ihr Pils unter Gleichgesinnten schmecken lassen.
Die kleinstmögliche Form des Zuhauses ist die Kleidung1. Die Klamotten sind in Berlin so unterschiedlich wie die verschiedenen Arten, ein Zuhause zu haben: die vermüllte Messibude findet ihre Entsprechung in müffelnder 24-Stundenkleidung. Das Gated-Community-Penthouse gleicht dem bescheiden wirkenden Kostüm, das ein Vermögen kostet. Passivhäuser stimmen atmosphärisch mit der verdächtigen Teuermode aus dem Manufactum-Katalog überein.
Was die Zuhause-Analogie für mein Leben bedeutet, wurde mir eines Abends klar: mit schwer beladenen Papiereinkaufstaschen stieg ich am Bahnhof Gesundbrunnen aus der U8, ich wohnte damals irrtümlicherweise im Wedding. Zuvor hatte ich eingekauft, um für Annabella (Name v. d. Red. geändert) zu kochen, die mich später besuchen würde.
Posteinkäufliche Apokalypse
Als ich schon den Kellerduft der U-Bahnschächte hinter mir gelassen hatte und über die Fliesen des Eingangsbereichs nach draußen ging, passierte es: eine der Papiertüten riss, der halbe Einkauf breitete sich auf den Fußbodenkacheln des Bahnhofs aus. Frischer Knoblauch rollte umher, ein Joghurtbecher platzte und verteilte sein mattes Weiß an meinen Hosenbeinen. Die Tüte mit den Cherrytomaten fächerte das wohlduftende Fruchtfleisch in alle Richtungen und sorgte für tiefrote Flecken unter manch hektischer Sohle. Eine indische Mango hat es um die halbe Welt geschafft, um jetzt ihre finalen Meter Richtung Rolltreppe zu kullern. Auf den metallenen Gitterstreben riss sie auf und ihre orangefarbenen Fasern schmatzten den Blues eines nutzlosen Jetsetlebens.
Salatsuizid am Straßenrand
Ein paar lose, handgezogene Kerzen rollten wie ein Ensemble Dynamitstangen sternförmig umher und sammelten den Schmutz des Tages ein. In Sekunden wurde ihr Weiß chamois, dann creme, dann bräunlich, schließlich ganz müllschwarz. Der große Salatkopf hatte schon Suizid begangen, in einem Pfützchen mit Erbrochenem.
Immer im Wandel: Berlins dämliches Dogma
Das alles war aber nur die apokalyptisch orchestrierte Begleitmusik für die wirkliche Sauerei: die Flasche mit steirischem Kürbiskernöl zerschellte auf dem Pastellgrün der historischen Fliesen im Wedding. Wenn es einen Berliner Bezirk gibt, an dem der hippe Mittevirus einfach nichts zum Erregen findet, dann dieser. Seit Jahrzehnten ist davon die Rede, der Wedding „käme“. Die Gegend um den sogenannten Gesundbrunnen aber kommt nicht. Sie ist einfach nur da. Mit proletarischer Stoik führt sie das offizielle Dogma Berlins ad absurdum, die Stadt sei immer im Wandel.
Pilspoeten beim Verseschmieden
Das krachende Desaster wurde von ein paar Bezirksbewohnern an Stehtischen vor dem Bahnhofsimbiss mit Empathie kommentiert. „Wird wohl nüscht mit romantischet Dinner bei Kerzenlicht, wa!“ rief einer der Männer mit den vielen Feierabendbieren. Ein anderer freute sich regionaltypisch hochsensibel über den Joghurt auf meiner Bügelfalte: „Jetz hatta Dreck am Stecken, der feine Herr!“
Wehret den Wurstgourmets!
Meine Lackschuhe und der dunkelblaue Zweireiher von Herr von Eden waren meine schützende Festung: mit dieser milieukonträren Kleidung konnte ich das Schlachtfeld meiner zerstörten Abendgestaltung verlassen, ohne dass meine Würde so endet wie der Salatkopf. Außerdem konnte ich durch meine modische Entschlossenheit vermeiden, dass die hämischen Grobheiten der Pilspoeten mein Innerstes erreichen und ich tagelang die Decke über den Kopf ziehen müsste. In aller Erhabenheit schritt ich also an den beiden Wurstgourmets mit den flotten Sprüchen vorbei, um beim Currybudenpersonal nach einer Schaufel und etwas zum Wischen zu fragen. Ich beseitigte die Spuren der Feierabendkatastrophe und gab das Werkzeug zurück. Mein Anzug war dabei mein innerer Altbau mit 5 Meter hohen Decken, das Einstecktuch der Kronleuchter. Der portable Palast. Der Salon zum Mitnehmen.
Keine Liebe für Verlierer
In speckigen Jeans und nach Geruch aussehenden Schlurfchucks hätte ich mich unter diesen milieuüblichen verbalen Liebkosungen wie ein Kretin gefühlt, der zu blöd ist, seine Einkäufe nach Hause zu tragen. Der nicht verdient hätte, geliebt zu werden – wen auch immer er da zu einem Essen mit überteuerten Zutaten in seine Bude hineingequatscht hat. Seitdem trage ich nur noch den Salon to go – das adäquate Kostüm für verwöhnte Städter. Wird allein durch Haltung warm.
Neuerfundene Wörter in dieser Kolumne: 24-Stundenkleidung, Teuermode, müllschwarz, Mittevirus, Pilspoet, Wurstgourmet, Schlurfchucks.
Das steirische Kernöl und diese verdammt leckeren indischen Flugmangos kosten leider ein Vermögen und müssen immer wieder nachgekauft werden. Sollten geneigte Lesende den Wunsch verspüren, mich dabei zu unterstützen, mach’ ich mich für den nächsten Einkauf extra schick!
…sagt Modedesignerin Karen Lukas.