Singen im Chor, das weiß die Wissenschaft, macht glücklich. Als ich mal einen Laienchor leiten durfte, spürte ich das jeden Dienstagabend: Knapp 40 Augen strahlen mich an, während ich den Hobbysängerinnen und –sängern auf dem Weg zu einem gemeinsamen Sound und rhythmischem Flow behilflich sein darf. Genauer gesagt, strahlen nur knapp 38 Augen, denn zwei gehören Kurt. Kurt arbeitet in der Verwaltung, blickt aber grimmig auf eine abgebrochene Musikerkarriere zurück. Daher beansprucht er einen anderen Status als die ahnungslosen Neulinge. Als ehemaliger Sänger einer Indierockband, die einmal fast einen Plattenvertrag bekommen hätte, kommt er schließlich aus dem Business. Und so ein alter Hase hoppelt nicht, wo die anderen unterwegs sind. Als ich den Chor über einen bevorstehenden Auftritt informiere, freuen sich alle, aber Kurt bellt: „Dit seh ick nich!“
So sehr ich auch beim gemeinsamen Einsingen für die Vorteile einer offenen Körperhaltung werbe, so sanft und einnehmend ich den Zusammenhang entspannter Schultern und samtigen Stimmklangs erfahrbar zu gestalten versuche, Kurt steht felsenfest mit verschränkten Armen in der Bassgruppe und sieht et nich.
Treffe ich Chorleute von früher, erzählen sie mir, dass „Dit seh ick nich“ ein geflügeltes Wort in ihrem Leben wurde, um Miesepetrigkeit auf ironische Weise einen Slogan zu geben. „Ich freu mich so sehr auf unser gemeinsames Wochenende, Baby!“ „Dit seh ick nich!“ – Herrlich. Armer Kurt. Er wollte die Bedenken tragende Stimme der Vernunft sein und ging als Witzfigur in die Geschichte seiner Mitmenschen ein.
Unfreiwillig bösartig war eine berufsbedingt mangelfixierte Musiklehrerin in der Grundschulzeit meiner Tochter. Bei einem Schulkonzert sang die kleine Leoni ganz toll ein Lied von Mariah Carey, das war wirklich beeindruckend. Nach dem zurecht rauschenden Applaus stellte sich Madame Pädagogikprofi ganz ungefragt ans Mikro und erklärte: „Man muss aber dazu sagen, dass die Leoni wirklich erkältet ist, da kann sie gar nichts für, wenn nicht jeder Ton sitzt!“
Auch für die Theaterprofessorin einer weltberühmten Schauspielschule, in der ich eine Zeitlang arbeitete, war der Sarg fast immer schon randvoll. Nach einer hochschulinternen Aufführung ging ich begeistert auf einen der Studenten zu, der mit seinem Spiel mein Herz berührt hatte, um ihn in Komplimenten zu baden. Die Professorin kam mir zuvor. Sie baute sich vor dem jungen Darsteller hin, riss die Augen auf, zog bedeutungsschwer die Schultern hoch und fragte: „Was war denn los mit dir? Ich hab dir kein Wort geglaubt!“ Das sah der erschöpfte Schauspieler sofort ein, schließlich ist Selbstzerfleischung das erste Pflichtfach in der legendären Mimenschmiede.
Man muss sich allerdings keine Sorgen machen, Theaterleute sind prinzipiell alle entweder sado oder maso.
Ich spaziere über den Bremer Weihnachtsmarkt, kindliche Staunlaune durchflutet feierlich mein Gemüt, als ich den Vanille- und Mandelduft schon von Weitem erschnuppere. Damit die Straßenbahn niemanden umfährt, geht ihr in diesen Tagen eine Frau mit Warnweste voran. In ihrer Hand eine Glocke, eine richtige, analoge Handglocke. Mit der bimmelt sie der Straßenbahn den Weg frei, als gäbe es keine Megaphone mit „Achtung, Achtung!“.
Ansonsten kündigt sich auf dem Weihnachtsmarkt die Ochlokratie1 an. Jegliche Menschlichkeit ist den paar- oder rudelweise geklumpten Besuchern abhandengekommen. Sie rüpeln sich mit Elendsfratzen durch die Menge, lassen ihren Müll fallen und präsentieren ihre mieseste Laune. In einem Bühnenbild aus Nusskuchen, Kinderkarrussells und heimeliger Adventsdekoration geben sie sich rempelig und konfliktbereit. Individuell gibt es ja alle erdenklichen Gründe für schlechte Laune, die sich auch durch Jingle Bells nicht vertreiben lässt. Aber so kollektiv? Umpöbelt von Verhängnis zwinge ich mich zu einem superfreundlichen Sontagskindlächeln. Ich will dem Sog der Unzufriedenheit ein Gegengift untermischen, aber gleite wie ein Geist durch die Menge, sie nimmt mich gar nicht wahr, meine Botschaft ist wohl zu subtil.
Ich gestehe, dass angesichts der von Konsumzwang und Selbstbehauptungsqualen entstellten Masse evolutionäre Überlegenheitsgefühle meine Menschenliebe zu erschüttern versuchen. Ich gestatte mir aber nicht, mich über die verkommene Gesellschaft zu erheben, die übersenfte Bratwürste in sich reinstopft, während sie ihren Schmerz in Facetime-Handys schreit.
Vielleicht sollten sie alle im Chor singen. Man muss nur Kurt von ihnen fernhalten.
Freundinnen, Freunde! Ich weiß, Ihr seid anders. Eure Frühstückswürste sind nicht übersenft, Ihr versteht zu zelebrieren. Ich will dies auch, immer wieder – und neue Wege mir erfeiern, das Leben hoch zu halten. Für Montag, den 9. Dezember, hat mich meine Freundin Christel überredet, in der Villa Sponte in Bremen eine Sonntagskindlesung zu begehen. Um 19 Uhr geht es los. Denkt Ihr, eine ganz bestimmte Kolumne darf nicht fehlen? Stöbert auf www.sonntagskind.blog und schreibt mir gern: sonntagskind@markscheibe.com
Auch das 167. Sonntagskind kommt gratis aus dem Internet, so wird es bleiben. Das ist meine soziale Kompensation der vielen Anmaßungen, die ich mir hier erlaube. Trotzdem freue ich mich über jede Zuwendung. Wer mag, wirft mit Geld:
Bis zum nächsten Sonntag,
Euer
PS:
Sollte ich Kurt jemals wiederbegegnen, hoffe ich, dass es ihn auch ein bisschen amüsiert, wie sehr er zu einem Sinnbild werden konnte. Es ist natürlich sehr viel eleganter, seine eigenen Sonderlichkeiten zum Anlass zu nehmen, sich lustig zu machen, aber Kurt hat sich mir so sehr als Symbol einer Gefahr eingebrannt, miesepetrig zu werden, dass ich sein Beispiel leuchtend hochhalten will. Am nächsten Sonntag werde ich mich selbst wieder schonungslos ins Visier nehmen, als moralische Ablasszahlung, versprochen!