Liebe Leserin, lieber Leser – willkommen im 193. Sonntagskind, der literarischen Achterbahn mit Tauchfunktion. Hast Du auch Lust, etwas Neues zu lernen? Am Ende dieser Kolumne schlage ich ein gemeinsames Kunstwerk vor. Viel Vergnügen beim Lesen!

Früher, als Kind, da sprachen die Großen manchmal voller Bewunderung von Lebenskünstlern. Dann weiteten sich ihre Augen und das Wort wurde zelebriert. Lebenskünstler, das waren in meiner Phantasie Abenteurer. Weltumsegler, Aussteiger – Leute, die sich den gesellschaftlichen Normen entziehen – wie der Bruder eines Freundes der Familie: Hein, er sah aus wie Joseph Beuys. Wenn man mit ihm ins Café ging, machte er sich einen Spaß daraus, wildfremde Leute lautstark zu fragen: „Wann haben Sie das letzte Mal gefickt?“ Im Bremen der 1980er Jahre lief das unter Performancekunst, man begegnete ihm mit verständnisvollem Lächeln. Hein lebte im Wald und verkaufte gelegentlich Objekte, die er aus Fundstücken geschnitzt hatte. Im Wald waren die Energien besser, sagte er. Ich verstehe, dass er aus der Stadt floh – ein Lebenskünstler.
Der Trompeter Richard Koch macht Alben, die „Stadt“ „Fluss“ oder „Wald“ heißen. Die Melodien zum letzten Album sind bei Waldspaziergängen zu ihm gekommen, erzählt er. Ich hatte Richard mal gebeten, als Trompeter meine Studioband im Fernsehen zu bereichern. Bei solchen Veranstaltungen sitzt man viel rum – das Showbusiness besteht zu 80% aus Warten, wusste schon Liza Minelli.
Irgendwann aber fuchtelt der Regisseur wild rum, dann muss sofort zackzack eine bestimmte Sache mit Musik geprobt werden. Für mich als Bandleader bedeutet das, alle zusammentrommeln: Die meisten sitzen mit ihren Handys irgendwo beim Catering rum, aber Richard steht schon seit einer buddhistischen Ewigkeit am Rand und beobachtet lächelnd einen Scheinwerfer an einem der Lichtmasten. Den Reflex, bei der kleinsten Pause nach seinem Telephon zu greifen, hat er einfach nicht. Er ist mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Ganz klar ein Lebenskünstler.
Muddel, meine Oma, war 23, als sie mit ihren zwei kleinen Kindern vor der roten Armee aus Schlesien Richtung Norddeutschland floh. Sie lernte von einem Moment auf den anderen mit dem Wenigsten auszukommen: Um das Ende einer Bambusstange bog sie einen Esslöffel, den sie mit einem Schleifstein so geschärft hatte, dass sie damit die Früchte von einem riesigen Birnbaum trennen konnte. Um den Löffel montierte sie noch einen aus einem Drahtbügel geformten Ring, an dem sie eine Plastiktüte anbrachte, damit die Birnen sanft fielen. In ihren späten Jahren sagte sie manchmal: „Was wir im Herzen tragen, kann uns keiner nehmen.“ – Eine Lebenskünstlerin.
Lebenskunst bedeutet vielleicht, den Horror des Lebens zu erkennen und ihm etwas ganz Einfaches entgegenzusetzen. Richard sieht im Smartphone wahrscheinlich einen Moloch und ignoriert ihn deshalb, lenkt seinen Fokus auf etwas beliebiges – so wie es ein Kind macht, wenn es mit dem spielt, was gerade da ist.
Muddel verlor den Vater ihrer Kinder und alles, was sie besaß. Was sie brauchte, hat sie selbst erschaffen – mit dem, was gerade da war.
Lebenskunst heißt Lernen. Als Schüler war mir dieses Wort verhasst – meine Lehrer haben es entweiht, mit ihrer Idiotie vom Büffeln, Pauken, Bimsen. Erst nach dem vergeigten Abitur habe ich begonnen, zu lernen. Zu lernen liebe ich heute: mit dieser brandenden Weltveränderung klar zu kommen, die Welle zu reiten, um nicht von ihr hinweggespült zu werden. Vielleicht sollten wir alle das Leben als Aufforderung begreifen, ein Kunstwerk daraus zu machen? Ein schönes, begehrenswertes Ding, das Leuten Freude macht, ihnen Rätsel aufgibt, sie zum Nachdenken inspiriert und ihnen hin und wieder ein Lächeln und eine Gänsehaut spendiert.
Lebenskunst ist eine Entscheidung: sich nicht betäuben zu lassen vom Lärm der Welt, sondern beim Lernen ohne Lehrplan das Unperfekte zum Besonderen machen – mit dem, was gerade da ist.
Ich glaube, es ist das Einzige, was hilft, um nicht im Magnetfeld künstlicher Intelligenz zu verblöden.
Jetzt, verehrte Gefährtinnen, Vertraute, Geneigte, meine Idee: Am 20. Juli erscheint das 200. Sonntagskind. Zum Jubiläum will ich eine Komposition erstellen, mit Eurer Beteiligung. Was ich von Euch brauche: Eine Audioaufnahme mit einem Satz aus einer beliebigen Sonntagskindkolumne, hier sage ich es persönlich:
Im Video sieht man es ganz deutlich: Ich brauche mehr Platz! Wer dem Künstler aus seiner beengenden Behausung verhelfen will, schmeißt einen Schein in den Zylinder: 🎩
PS: Vor einiger Zeit bat ich Euch bei der Titelfindung einer neuen Kolumne um Rat. Mit großem Abstand kürtet Ihr den Namen „Eine Runde Riesenrad” zum Favoriten. Ich bin Euch gefolgt, so heißt das Ding jetzt – seit dem 1. Juni schreibe ich im alle zwei Monate erscheinenden sehr schönen Druckerzeugnis „Schwachhauser – Magazin für Bremen” eine Kolumne auf der letzten Heftseite. Die erste Ausgabe mit dem Titel „Stößchen, Aperölchen” ist online. Im Heft blättern und lesen geht hier:
Lebenskunst - was ist das. Schön, dass du den Begriff so positiv konnotiert erfahren hast. Das war in meiner Familie anders. Lebenskünstler waren die, welche es zu nichts gebracht haben, weil sie nicht aufgepasst hätten in der Schule und nun kein Auskommen hätten. Oder solche, welche am Rand stünden, weil sie anders seien. So, wie es eben nicht genehm sei. Dass ich ein Faible für diese Menschen hatte, war ein Dorn im Auge, dass ich auch in die Richtung tendierte, noch mehr. Nun denn.
Ich habe über viele Jahre immer wieder neu erfunden, hatte Ideen, habe sie gelebt, habe geliebt, was ich lebte. Habe ich es zu was gebracht? Nö, nicht im gesellschaftlichen Sinne des Wortes. Lebenstechnisch sicher viele Erfahrungen, viel Spannendes, Kreatives, Lebendiges. Und ja, ich habe gelernt. Viel gelernt. Immer wieder Neues, was auch immer ich halt brauchte für mein neues Kunstwerk, das Leben hiess. Vielleicht mag ich die Formulierung
"beim Lernen ohne Lehrplan das Unperfekte zum Besonderen machen – mit dem, was gerade da ist."
deswegen so sehr. Genau das war (ist) es nämlich. Und es geht weiter. Das ist das Schöne dran. Vermutlich ist es bezeichnend, dass mein liebstes Gedicht von Rilke stammt: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn..." So sehe ich das. Mit dem Leben. Mit der Kunst. Mit der Lebenskunst.
Danke für deinen (wieder einmal) schönen Text und Denkanstoss.
Dein Beitrag ist so liebenswürdig und einfach schön! Die Kunst des Lebens, so finde ich, beherrschen auch die Menschen, die das tun, zumindest versuchen, für das sie zu anderen hoch oder hinüberschauen. Ohne dabei gelb und krank vor Neid zu werden, weil es bei anderen besser funktioniert. Das mit dem Geld, mit der großen "Kunst", mit der legendären Liebe, dem Status, dem Wohnort u.v.m. . Die anderen probieren das nicht und schätzen damit sich selber gering, lachen diejenigen boshaft und sehnsüchtig aus, die es versuchen und werden insgeheim gelb vor Neid wenn sie sich verehrend vor ihre Role Models werfen.