Verehrte Lesende,
ich danke für die hohe Beteiligung an der Umfrage letzte Woche. Das Ergebnis: nur 14% von euch wollen gesiezt werden. Danke für die Klarheit!
Vor Kurzem habe ich von einem hohen Berg hinuntergeschaut. Auf dem Weg nach oben spürte ich noch Groll im Rucksack, über ein vergeigtes Projekt. Oben lernte ich, wie unwichtig das Fiasko ist. Mit leichtem Geist zählte ich mir die Chronik meines Scheiterns auf – dann musste ich lachen. Dieses Lachen soll in der heutigen, 105. Sonntagskind-Kolumne zuhause sein. Ich wünsche einen herrlichen Sonntag – und freue mich, auf ganz eigene Weise, mit an eurem Frühstückstisch sitzen zu dürfen.
Euer Mark
Scheitern. Was für ein Wort! Es bedeutet „in Stücke gehen“. Mit jedem Scheitern zerfällt man oder kracht auseinander, manchmal wird man auch zerfetzt, aufgelöst oder man ist zerrissen, je nach Temperament. Nach dem Scheitern kann man sich den Scheiterhaufen in Ruhe ansehen und schauen, ob man aus den Einzelteilen etwas Besseres zusammengebaut bekommt – oder etwas Schlechteres. Aber eins nach dem anderen.
Ich bin schon so oft gescheitert, ich bin ein Profi: Mehrere Rausschmisse aus laufenden Theaterproduktionen und Fernsehshows. Verhinderte CD-Produktionen bei bereits gedruckten Booklets. Hausverbot in einem Opernhaus, für das ich eine Revue arrangiert habe. Zuletzt die Komposition einer viereinhalbstündigen Stummfilmmusik für Orchester, die mit großem Trara die Sensation des Jahres werden sollte – und wegen eines Streits mit dem Veranstalter nur ein einziges Mal auf die Bühne kam. Mit Susie R. wollte ich so richtig zusammensein. Sie mit mir nicht. Immerhin konnte ich aus der gescheiterten Leidenschaft ein Liebesklagelied herauspressen. Frisch verwundet habe ich es damals mit meinem Orchester live im Radio gesungen1.
Braucht noch jemand eine süffisante Therapeutenstimme2, die einem weismachen will, Scheitern wäre eine gute Sache? Es ist die Hölle. Aber sie hat einen Notausgang: man verwandelt den Schmerz in eine neue Idee. Keiner muss dabei so weit gehen wie Walter White, der Protagonist der Jahrhundertserie „Breaking Bad“. Der findet sich an seinem 50. Geburtstag gescheitert vor: er hat eine Karriere als Startupmillionär aus Hasenherzigkeit abgelehnt, wurde lieber langweiliger Chemielehrer3. Sein Machoschwager führt den nicht ernstgenommenen Familienvater vor. Allmählich wird der Hinterwäldler zu einem mörderischen Drogenboss – wer ist hier gescheitert?
Genies werden als Künstler unsterblich, aber scheitern als Charakter; Richard Wagner durch fieses Herrenmenschentum, Leni Riefenstahl durch Unterlassen von Menschlichkeit, Michael Jackson durch Realitätsverweigerung. Ich arbeite derweil aus künstlerischen Gründen an meiner Schlechtigkeit.
Für Künstler gibt es nur einen Weg, das Scheitern zu managen. Die Genies der Geschichte lehren es uns. Man muss die Niederlage vom eigenen Schaffen weglenken und ins Charakterliche verlagern. Seien wir ehrlich: Picasso, Steve Jobs, Simone de Beauvoir, Charlie Chaplin – alles Arschlöcher, wie man liest. Ich habe da noch viel zu lernen. Meine Therapeutin weiß, ich will gefallen. Liebgehabt werden. Deswegen gebe ich zum Beispiel immer übertrieben viel Trinkgeld. Mir ist allerdings aufgefallen, dass ich zu osteuropäischem Personal in vermeintlich italienieschen Restaurants weniger großzügig bin. Auch in asiatischen Lokalen kneifen die Spendierhosen. Das ist charakterlich sehr schwach – ich würde das Brecht und Nietzsche sofort auch zutrauen. Sicher schon ein kleiner Schritt in Richtung Genie!
In einer Sendung von Ken Jebsen, der als Journalist gescheitert ist, es dann aber als Onlinedemagoge geschafft hat.
DU BIST DIE RICHTIGE, live mit dem Berlin Revue Orchester im Kleinen Sendesaal des RBB, im April 2010
Hier ein guter Artikel aus dem österreichischen STANDARD.
Mein Chemielehrer war sehr unterhaltsam. Er hieß Herr Sundararajan, ich glaube er war ähnlich überqualifiziert wie Walter White. Er sprach sehr schnell, wenn auch mit starkem indischen Akzent. Manchmal war er beleidigt, weil er dachte, dass man sich über ihn lustig machte. Dann sagte er: „Sie mussen mal nicht immer so klug sein!”