„ … und grüß Uschi von mir!“ gibt mir Franz noch mit auf den Weg. Klar, mach ich! Uschi sagt danke und bittet um Rückgruß. Beladen mit Grußbotschaften schleppe ich mich so durch meine Lebenswege, bis ich Franz schöne Grüße zurück von Uschi ausrichten darf. So nett diese Grüße gemeint sind, sie transportieren nichts außer ihrer eigenen Existenz.
Als ob man einen Umschlag öffnet, den Brief entfaltet, um „Hallo“ zu lesen. Sonst nichts. Der Bote darf die leere Botschaft überbringen, die immer mit der Hoffnung bepackt ist, dem Absender Lorbeeren der Aufmerksamkeit einzubringen. Statt sich selbst zu melden: Schöne Grüße! Soll jemand anders doch Interesse und Nähe vortäuschen. Grüße ausrichten kostet nichts.
Bevor ich mich das nächste Mal dazu hinreißen lassen, jemandes Nähe zu einem bestimmten Menschen zu benutzen, um an dessen Horizont mittels Grußfloskel kurz aufzublitzen wie ein Avatar im Videospiel des Lebens, werde ich innehalten. Und mich fragen, ob ich Lust habe, anzurufen, zu schreiben, sich zu treffen.
Ob ich den Mut habe, eine Grußbitte zurückzuweisen und zu sagen: „Meld dich doch selbst bei Uschi und wälze nicht dein schlechtes Gewissen über die mangelnde Pflege eurer Freundschaft auf mich ab, du manipulativer Halunke!“, muss ich dann sehen. Als harmonielüsterner Peoplepleaser ist das eine Herausforderung, die ich nicht begrüße.
Der viel zu laut telephonierende Sales-Manager, der im Ruhebereich des ICE „Herr Reimann, ich grüße Sie!“ in sein Telefon ruft, grüßt auch nicht, er macht vor allem Lärm. Ein Gruß muss doch mehr sein als seine Behauptung.
Ein Gruß kann eine Umarmung sein, ein Brief, ein Handschlag, ein Blick in die Augen mit Worten, die verbinden. Die Angewohnheit des Grüßens kommt wohl aus der Prä-Post-Ära: Bevor es Briefe gab, konnte man Grüße nur mittels berittenen Boten überbringen, wollte man nicht selbst reisen. Ich erinnere mich an eine Zeit mitten in der Post-Ära, in der ein Brief von Bremen nach Mexico-City mindestens 14 Tage brauchte. Dort lebte meine allererste Liebe, wir telephonierten einmal im Monat. Wenn sie mich bat, ihre Freundinnen Nadja, Tanja und Patrizia von ihr zu grüßen, dann war das ernst gemeint, weil sie keine Möglichkeit hatte, deren Stimmen zu hören, ihre Worte zu lesen, in ihre Augen zu schauen. Keine Mails, kein Whatsapp, kein Facetime – ihre Grüße kamen mit Wucht.
Mit Wucht werden wir gerade in die Post-Post-Ära geworfen, denke ich. Im Briefkasten liegt eine Karte, aus der ich recherchiere, dass mein Paket in einem Laden in der Nachbarschaft abzuholen ist. Hinter dem Tresen des Geschäfts, das vor allem mit Energydrinks zu handeln scheint: Ein junger Bodybuilder, der mit seinem Handy beschäftigt ist und auf Nachfrage in Richtung eines Hinterraums deutet.
Dort lungert ein Junge herum, der keine Ahnung hat, wo mein Paket sein könnte. Musstu kucken, sagt er und deutet auf diese chaotische Regalwand, in der sich Pakete ohne für mich erkennbare Ordnung häufen. Er holt einen anderen Mann. Der hat Chef-Vibes und trägt „Shvice“, das Eau de Cologne der Straße.
Er kommt kampfbereit auf mich zu und bläst sich auf. Viel zu nah an meinem Gesicht schreit er „Waswillstu“ – „Bitte händigen Sie mir doch mein Paket aus, das sich augenscheinlich in Ihrem Besitz befindet“ entgegne ich dem wütenden Gladiator aus der Späti-Arena, mit ausgesuchter West-Berliner Seidenhalstuch-Vornehmheit.
Jetzt zuckt ihm der Bizeps: „Wenn du hast Paket was kommst du!“ – kläfft der Kämpfer an der Paketshopfront, als wäre ich kein Kunde, sondern ein Feind, der sich in seine Schatzkammer gemogelt hat. Dem jüngeren Mitarbeiter ist mittlerweile der Fund geglückt, er gibt mir mein Paket. Der düster vor sich hin dräuende DHL-Diktator schaut mich an, als ob ich Glück habe, dass er mich nicht in seinem Privatgefängnis foltert.
Früher habe ich mich über die Pedanterie und Spießigkeit von Postbeamten lustig gemacht. Sie waren für mich uniformierte Wichtigtuer. Wie hochmütig von mir! Könnten diese mit Berufsethos, betrieblicher Sorgfalt und amtlicher Beförderungsakkuratesse gesalbten Staatsdiener sich doch wieder um unsere Pakete kümmern. Ich würde immer, wenn ich einen sehe, aus Respekt stehenbleiben und von ganzem Herzen grüßen.
Neu erfundene Wörter im 169. Sonntagskind: Post-Post-Ära, Rückgruß, harmonielüstern, Chef-Vibes, Seidenhalstuch-Vornehmheit, Späti-Arena, Paketshopfront, Privatgefängnis, Beförderungsakkuratesse.
Verehrte Lesende, geneigte Freundinnen und Freunde der gehobenen Frühstücksliteratur, Connaisseure (m, w, d) des leichten Amusements mit Tiefe. Auch im vierten Jahr der wöchentlichen Sonntagskind-Veröffentlichung ist sich die Redaktion einig: Sonntagskind bleibt gratis. Um unabhängig zu sein von der Willkür der Transportbranche, sparen wir allerdings auf eine Betriebspostkutsche. Wer das noble Unterfangen mäzeninnen- oder mäzenenhaft sponsorieren will, kann das hier portofrei tun:
PS: Vergangene Woche durfte ich mit einem Zirkel feiner Menschen meine erste Sonntagskindlesung zelebrieren. Anstatt wie angekündigt mit einem schwarzen Rollkragenpullover zwischen halbprivat genuschelten Sätzen von Kleistlänge immer wieder an einem Glas stillen Wassers zu nippen, entschied ich mich für einen klassischen Smoking und eine deklamatorische Intensität nach dem Vorbild Gustaf Gründgens’. Hier der Beweis im aktuellen Vertikalvideostil:
Sollte das Interesse an Betrachtungen des Botenwesens noch fiebrig züngeln, kann es mit diesem Requiem für die schönste Form der geschriebenen Botschaft womöglich gekühlt werden:
Den Hastedter-Frischmarkt betreibt ein älteres türkisches Ehepaar. Beide total lieb und süß, erstrecht, wenn ich mit meinem gebrochenen Türkisch nach meinem Paket frage. Die haben sich kürzlich sogar die Nummer eines Kunden geben lassen, weil sie in einem ähnlichen Pakethaufen, wie er dir kredenzt wurde, sein Paket nicht finden konnten. Sie würden anrufen, wenn sie es gefunden haben. Toll, oder?
Wer hätte das gedacht, das wir uns einstmals über schlechte Umgangsformen echauffieren.- Wunderbar beschrieben.....und danke für den Clip aus der Villa