Verehrte und sehr geliebte Lesende, Ihr wundervollen Menschen, in deren Sonntagsritualen ich einen Ehrenplatz haben darf. Heute schreibe ich Euch aus Venedig, diesem Weltwunder des Städtebaus. Ich verbringe hier ein paar Tage mit Annabella (Name v. d. Red. geändert) und meiner Mama (83). Gerade war ich in einer Kirche. Ich setzte mich auf eine der Bänke, schaute in den großen Raum mit seinen Bögen und Fresken, ließ meinen Blick über jahrhundertealte Beichtstühle und Skulpturen gleiten und schloss die Augen. Ich hörte den Raum. Diesen überwältigenden, mit Stille gefüllten Raum. Die Klänge der Straße waren weit weg. Das Lachen, die Rufe, die Gespräche, das Plätschern des Kanals, wenn ein Vaporetto übers milchig-grüne Wasser schippert. Kommt das Grundrauschen, der Basislärm der Welt vom Menschen selbst, und nicht von Autos, kann sich die Seele im Klang ausbreiten. Wenn ich im Tonstudio Musik produziere, spielen Hallräume immer eine große Rolle: Digital hergestellte Räume, die einem Klang einen Ort geben. Sie so zu gestalten, dass sie gut klingen, ist eine Kunst für sich. In dieser Kirche ist der Klang da. Einfach so. Ich habe das Gefühl, in ihn hineinzuwachsen und erlebe diese paar zeitlosen Minuten in der Umarmung des Raumes wie eine Spritze mit Lebensmut. Sollte ich wieder in die Kirche eintreten, damit diese Räume gepflegt werden und geöffnet bleiben? Es wäre eine Schande, wenn dort eine Burger-King-Filiale einziehen müsste. Also, im 181. Sonntagskind geht es um Weisheit: Gute Ratschläge, Top-Tipps für ein Super-Leben. Viel Freude beim Lesen wünsche ich,
Euer Frühstücksliterat, Hobby-Coach und Easy-Living-Experte Mark Scheibe.
Schlaue, einfache Sätze faszinieren mich. Sie können mich geradezu erwecken. Das erste Mal passierte das mit achtzehn: Ich nahm als junger, unerfahrener Musiker an einer Freejazz-Session teil. Danach war ich nicht mehr der, der ich vorher war. Als hätte ich mit wildfremden Menschen ein weltbewegendes Gespräch geführt – ohne ein Wort dabei zu verlieren, nur durch die Sprache der Musik. Im Nachhall dieser mein Leben verändernden Erfahrung sagte ich mir: „Tu einfach nur noch, wozu Du Lust hast!“ Sogenannte Erwachsene versuchten mir später den Unsinn meiner genialen Affirmation klarzumachen, aber in der Lustfrage blieb ich starrsinnig. Bis jetzt hat dieses schöne Leben mir recht gegeben.
In letzter Zeit tauchen im magischen Höllenbildschirm meines Telephons Sammlungen mit Sätzen auf, die von ähnlicher Wucht sind wie mein dauergültiges jugendlichen Lebensmotto. Weil ich durch griffige Fomulierungen so leicht entflammt werden kann, habe ich Screenshots gemacht. Hier fasse ich die geballte Lebensklugheit dieser Lebensveränderungsposts für Euch zusammen:
„Do not engage in gossip” – Ganz recht: Tratsche nicht, lästere nicht! Diesen Rat hat mir schon einmal jemand gegeben, hab ich Euch von diesem Idioten schon mal erzählt? Was war das für ein blasierter Vollhonk! Plustert sich auf mit seinem pastoralen Gehabe und faselt pseudoreligiösen Unsinn, der dann für jeden gelten soll. Außerdem, das hat er mir im Vertrauen gesagt, hält er sich für klüger als Nietzsche und sexier als Elvis.1
„Judging others will ruin your mind!” – Wie wahr! Man sollte nicht so ein urteilender Menschenbewerter sein wie zum Beispiel Heidi Klum, diese seelenlose Teufelin. Oder Friedrich Merz, der alle Grünen für Spinner hält. Gestern zitierte ihn die FAZ mit seinem Spruch von der „fiskalen Disziplin” – was für eine herrliche Umschreibung für „Steuererhöhungen für die Armen“! Auch wenn es mein mind ruiniert: Ich judge über den wahrscheinlichen Kanzler. Spricht er von fiskaler Disziplin, sehe ich ihn irgendwie im Dominastudio, wie er mit dem Gürtel ausgepeitscht wird, den alle anderen in Zukunft bitte enger schnallen sollen. Ist vielleicht nur meine eigene perverse Fantasie.
„People doing stuff don’t have time for people saying stuff.” – Kennen wir nicht alle dieses Bild aus dem Straßenbau? Einer kniet am Boden und schuftet, zwei stehen daneben mit in die Hüften gestemmten Händen und erklären ihm, wie es besser geht. Es ist vielleicht eine der wichtigsten Lektionen im Leben, dem Geschwätz der Dampfplauderer nicht auf den Leim zu gehen.
Als 20-Jähriger hatte ich eine Band, wir waren ganz gut. Einmal saßen wir im Tonstudio eines Produzenten. Der Mann war richtig nett. Er war, glaube ich, ein Ehrenmann, mit den besten Absichten, schlug er doch vor, auf seine Kosten ein Album in seinem Studio aufzunehmen und das dann Plattenfirmen anzubieten. Im Fall eines Vertrags wäre seine Arbeit bezahlt worden, sonst nicht. Wir waren vorsichtig. Dann kam ein Bekannter, der sich schon auskannte im Business. Er redete uns ins Gewissen: „Lasst euch bloss nicht über den Tisch ziehen, das ist der Anfang vom Ende, die Plattenfirma kauft euch vom Markt und ihr habt Auftrittsverbot, auf keinen Fall unterschreiben, das ist ein ganz mieser Trick der Industrie!” – Wir meldeten uns nie wieder bei dem Tonstudiobesitzer. Später habe ich mir geschworen, mich nie wieder von dem abhalten zu lassen, was mir Spaß macht.
„When someone speaks, listen to learn, not just to respond!” – Genau: Spricht jemand, lerne zuzuhören, nicht nur zu antworten!” Schreibt euch das hinter die Ohren, Leute! Lernen hat hierzulande einen üblen Ruf. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, strömt der Volksmundgeruch übel aus. Ich muss an den Straßencowboy denken, auf dessen Hoodie der Spruch „You better learn to fucking live”2 gedruckt war – und dessen Attitüde keinen Zweifel aufkommen ließ, wer seiner Meinung nach hier von wem zu lernen habe.
Aber ganz im Ernst: Ich liebe lernen. In der Schule habe ich’s nicht begriffen, aber als ich anfing, Musik zu machen. Allmählich verstand ich, wie ich mir Wissen und Fähigkeiten aneignen kann. Seitdem bilden mich Bücher, Youtubevideos und das Spazierengehen aus. Schummelratgeber wie „Teach yourself to compose music” oder „Werde Investmentprofi über Nacht” faszinieren mich genauso wie „Erfolgreich verhandeln – die Insidertipps eines FBI-Agenten”. Wenn hier jemand, statt zuzuhören, wie es der schlaue Satz empfiehlt, lieber drauflosplappern will, bitteschön:
Das folgende Bild passt hier nicht ganz hin, aber ich liebe es: Loben ist so wichtig, gerade bei uns in Disziplindeutschland, wo der schwäbische Grundsatz gilt: „Nicht gemeckert ist genug gelobt.” – Wissenschaftler sind sich einig: Wer seine Erfolge feiert, lebt länger. Jeder Tag ist schließlich ein Sieg über die Natur (siehe Bild).
Das gefällt mir: „Erfolg ist manchmal, was du unterlässt – nicht, was du beginnst.” Ich muss an meinen verstorbenen Freund Christof denken. Er sprudelte vor genialen Ideen. Ein Jahrhundertgedanke jagte den nächsten. Gigantische Kunstprojekte mit weltumspannenden multimedialen Installationen wuchsen in seinem Kopf zu perfekten Inszenierungen heran. Er sprach so schnell, dass er keine Zeit hatte, sie zu realisieren. Vielleicht gaben ihm auch die täglichen Joints das Gefühl, dass er Handeln gar nicht nötig hatte. Ich vermisse ihn.
Auf Motivation zu warten ist wirklich teuflisch. Hier riecht der Volksmund ausnahmsweise nach frischer Minze: “Der Appetit kommt beim Essen.”
Kurt Vonnegut touchiert mich: O, ich will wieder irgendwo leben, wo Einzelhandel ist, wo Menschen sich treffen. In Bremen im Ostertor kaufe ich Tintenpatronen und Briefpapier bei Otto Weller, bringe meine Lackschuhe zum Schuster ein paar Häuser weiter. Bei Barbara im Atrium kaufe ich noch Luxusnougat zum Verschenken und finde beim Secondhandladen „Anziehungspunkt“ eine Clutch aus den 70ern. Gegenüber konnte ich bis vor Kurzem nicht am Herrenausstatter von Lysander vorbeigehen, bevor mir Achim von Lysander persönlich einen neuen Anzug untergejubelt hat. Das ist das Dorfleben im Bremer Ostertor. Leider ist Bremen mir zum Leben zu gefährlich, auf Dauer würde ich dort bequem werden. Deswegen muss ich mich seit über 20 Jahren der Haupstadt aussetzen – und falle regelmäßig auf die Gentrifizierungsversprechen rein, dass sich dort, wo ich hinziehe, demnächst Feinkostgeschäfte, Schreibwarenläden und andere Prachterscheinungen der aussterbenden Einzelhandelswelt niederlassen.
5 Hobbys habe der Mensch:
Eins, das Geld bringt. Eins, das einen in Form hält, ein Hobby, das die eigene Kreativität anfeuert, eins zur Wissensbildung und eins zur geistigen Horizonterweiterung. Muss man dann noch arbeiten? Man prüfe die Liste, hier ist meine:
Ich bilde mich gerade selbst zum Börsenguru und Bitcoinpapst aus. Macht Spaß, bringt Geld.
Nachdem ich mein Leben damit verbracht habe, mir zu sagen, dass ich jetzt aber mal wirklich Sport machen müsse, mache ich seit sechs Jahren ernst. Zuvor habe ich unzählige Probetrainings in sogenannten Fitness-Studios gebucht – und anschließend hochmotiviert im schweißnassen Dopaminvollrausch Jahresverträge unterschrieben. Die Gyms haben mich nie wieder gesehen, aber mit dafür gesorgt, dass Hobby Nr. 1 eine wirklich sinnvolle Sache ist. Laufen in der Natur kostet nichts – und spielt direkt in Hobby Nr. 5.
Als ewiger Selbsterfinder nimmt die Kreativität den größten Raum in meinem Leben ein. Ich war schon Chorleiter, Ballettrepititor, Hotelbarpianist, Dirigent, Varieté-Conferencier und Dozent an einer Hochschule (trotz fehlenden Abiturs) – dabei fühlte ich mich immer heimlich wie ein Betrüger. Not macht erfinderisch!
Siehe Punkt 1.
Beim Laufen haben die Gedanken frei – ich sehe sie förmlich am Horizont herumtanzen und die Endpunkte in die Weite ziehen.
Roberto Blanco, der berühmte Entertainer, wurde in einem Restaurant gesehen, heißt es. Als er ging, blieb er an der Tür stehen, drehte sich um, öffnete die Arme und sagte mit dem charmantestmöglichen Lächeln: „Dankeschön!” – Danke zu sagen, anstatt sich zu entschuldigen, empfiehlt mir eine Seite im Internet, die mit „Dark Psychology” wirbt. Ein „Danke“ schafft eine viel günstigere Atmosphäre als ein „Sorry” heißt es von den Onlinepsychologen. Gute Idee: Statt sich beim nächsten Zuspätkommen zur Orchesterprobe / Vorstandssitzung / Mathe-Arbeit Angstschweiß ausdünstend der kollektiven schlechten Laune zu unterwerfen, sagt man „Danke, dass Sie auf mich gewartet haben” und zeigt sich in seiner ganzen Güte. Solltet Ihr, verehrte Sonntagskindler, jemals eine Mail von mir im Postfach haben, deren Betreff „Danke“ lautet, muss ich wohl um Entschuldigung bitten, dass ich nicht wie gewohnt um Fünf Uhr fünf in Eurem Postfach erschienen bin. Aber so früh steht ohnehin niemand von Euch auf, oder?
Danke fürs Lesen von Sonntagskind, der wirklich freien Presse. Da Diktatoren aus aller Welt und extremistische Organisationen bislang noch keine Finanzierungsperspektive geboten haben, bin ich mit meiner völlig überforderten
1-Mann-Redaktion auf Zuspruch, Lob, Empfehlung und Spenden angewiesen. Danke!
Apropos guter Rat: Letzte Woche beim II. Salon der neuen Zeit in Bremen: Psychologin Annette Goldschmitt-Helfrich stellt ihr Buch vor, in dem es um die vielen Ratgeber der Gegenwart und die allgemeine Ratlosigkeit ging. Ich hörte genau hin und schrieb einen Songtext, der den Vortrag poetisch zusammenfasst. Im Anschluss an den tiefschürfenden Exkurs komponierte ich mit dem Publikum in einem beiepiellosen Akt aus Schwarmintelligenz und Masseninspiration einen Song aus dem Text. Hier der Beweis:
Bei diesen Sätzen handelt es sich womöglich um die Niederschrift eines inneren Dialogs des Autors mit sich selbst. (Anmerkung d. Red.)
„Vor uns läuft ein Mann, Mitte 50. Seine Körpersprache orientiert sich an Kerlen, die sich nichts vormachen lassen. Die filterlose Zigarette hält er zwischen Daumen und Ringfinger. So wie auf dem Schulhof früher – in dieser Haltung kann die Kippe schnell in der Hand verschwinden. Die schwarze Jeans umkleidet Beine, die wissen, wie ein Pferd zu bändigen ist. In tiefen Kinnfalten vergrabene Mundwinkel berichten von einem Leben, in dem es nichts zu lachen gibt. Ein eisiger Blick verkündet die Bereitschaft, für die eigenen Ideale zu sterben. Auf der Rückseite seines T-Shirts prangt: ‘You better learn to fucking live.’” – Die ganze Wahrheit in diesem Sonntagskind:
Moin Marc, wünsche dir und Helga eine schöne Zeit in Venedig. Du hast so eine so tolle Mutter. Gruß Ute
Danke, Mark!
Ich bin bekennender Internetler seit 1984 (erste E-Mail), aber Kurt Vonnegut hat so recht! Let's dance more!