Sehr geliebte Lesende,
an den Klängen Eurer Stimmen darf ich mich erfreuen, seit Ihr mir eingesprochene Sätze schickt, damit ich diese in einer feierlichen Collage zur Jubiläumsausgabe zusammenkomponiere. Ein paar Tage lang nehme ich noch Aufnahmen an, sprecht einen Lieblingssatz aus einer Sonntagskindkolumne ins Handy, schickt ihn mir einfach per Mail oder Whatsapp. Danke! Jetzt wünsche ich viel Vergnügen mit dem 196. Sonntagskind und einem farbgesättigten Ausflug in Neurowissenschaft, Geschichte und Intelligenz!
Alma Mahler, die große, leider zur Muse herabgestufte Künstlerin, duldete keine Normalos. Sie zwang ihren Chauffeur, Gedichte zu schreiben, denn sie wollte von schillernden Geistern umgeben sein. Wie es dem Berufsfahrer mit dem Dasein als Gefangener im Poesieregime ging, ist nicht überliefert – im besten Fall hat das Kreativitätsdiktat sein Blickfeld erweitert.
Wenn es nach der Neurowissenschaftlerin Emily McDonald geht, sollten wir alle immer wieder ungewohnte Dinge tun – so hält man das Gehirn am Wachsen.
Im Dezember war ich einer von drei content creators in einer Werbekampagne für eine große Versicherungsgesellschaft. Zwischen Fehmarn und dem Allgäu besuchte ich Versicherungsniederlassungen, um die Vollkasko-Experten aus ihrer Komfortzone in meine zu locken. So kam ich dazu, eine Telefonwarteschleife mit der schwäbischen Versicherungschefin Annette zu performen, mit dem angehenden Insurance-Agenten Timo am Fender-Rhodes-Piano sein Berufslebensmotto zu vertonen, und mit der norddeutschen Versicherungsfachfrau Johanna einen Reggaesong über das gute Gefühl einer stattlichen Police auf die Social-Media-Bühne zu bringen.
Ich wunderte mich mal wieder über meinen Beruf mit seinen ständigen Überraschungen, so etwas habe ich noch nie gemacht – Emily McDonald kann stolz auf mich sein: Mein Gehirn müsste mittlerweile Einsteindimensionen haben.
Einmal schnappte die Kamera beim Versicherungsdreh einen Blickwinkel auf, aus dem ich tatsächlich Albert Einstein ähnelte. Allerdings nicht wegen Genie-Aura, sondern zunehmender Weißhaarigkeit, ich war erschüttert! Mein Gehirn hat keine Zeit für magische Weltformeln, denn in der Materie zwischen meinen Ohren ist vor Allem relativ viel Energie für Eitelkeit.
Eitelkeit mag eine der sieben Todsünden sein, für mich ist sie der Schlüssel zu einem besseren, gesünderen Leben. Alle vernünftigen Entscheidungen treffe ich aus reiner Eitelkeit: Mit dreißig drückte ich die letzte Kippe in den Aschenbecher, weil ich kein rauchledriges Revalgesicht bekommen wollte. Seit einiger Zeit esse ich keinen Zucker mehr und schaue den Champagner nur noch aus der Ferne an, um eine jugendliche Bikini-Figur in meinen präseniorigen Körper hineinzugestalten. Nimm dies, Albert!
Also renne ich mit superteuren Laufschuhen durch den Park. Keine Ahnung, ob Einstein jemals joggen war, aber in Sachen Gesundheit (Kettenraucher, Tod mit 75) – ist er kein Rolemodel, und frisurell schon gar nicht, es sei denn, der Alte-Zausel-Look wird von Neuköllner Hipster-Trendsettern demnächst en vogue gehyped.
Solange die Gesellschaft noch nicht so weit ist, muss Claire ran – seit über zwei Jahrzehnten schneidet mir Meisterin Claire die Haare. Claire ist die Alma Mahler 2.0 des Haarschneidewesens: Sie bereist ständig Europa, um auf internationalen Coiffeur-Kongressen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Färbekunst aufzusaugen. Die Kolorierungs-Einsteins von Wella und L’Oreal tun einiges, um Männern ein Altern in Würde zu ermöglichen. Nun hat sie mich wieder, die Beschönigungsindustrie. Ich sitze einmal im Monat mit Alufolie im Haar unter der Haube und vertraue darauf, dass mir Claire mit ihrer Handwerkskunst das sizilianische Originalschwarz meiner Jugend zurückgibt, ohne wie ein getönter Gockel zu wirken. Ob sie es schafft?
Schreibt mir in die Kommentare, ob Claire mit mir auf dem richtigen Weg ist:
Neu erfundene Wörter im 196. Sonntagskind: Poesieregime, Kreativitätsdiktat, rauchledrig, Revalgesicht, präseniorig.
Wer sonst schreibt über Versicherungs-Content, Einsteinfrisuren und Bikini-Figuren in einem Text? Eben. Unterstützen Sie diesen Wahnsinn ❤️
Wer sich mein Debut im Werbebusiness anschauen will, guckt auf Insta:
Wo wir schon mal da sind: Emily McDonald ist toll, schaut selbst:
Wer von meinem Themenkosmosfetisch Frisur/Alter noch nicht genug hat, muss diese zwei verwandten SK-Kolumnen studieren:
Vokuhila, Dorian Gray und die Parteien (Repost)
In Charlottenburg musst du top aussehen. Im Bezirk, nach dem Hilde Knef Heimweh hatte, ist Glamour Pflicht. In Mitte kannst du unrasiert im Anorak mit einer Flasche Sternburg Pilsener in der Volksbühne rumlümmeln. In Turnschuhen, sogar mit Mitte Fünfzig. In die Deutsche Oper lassen sie dich so nicht rein, in Charlottenburg trägst du glänzende Lackschuhe…