Freundinnen, Freunde, liebe neue Leserinnen und Leser,
manchmal bade ich in Glück, dagegen ist Gustav Gans eine trübe Tasse. Dieser Tage blicke ich zurück auf ein erhebendes Volksfest mit Musik, die Singenden Balkone, von denen ich Euch weiter unten berichten will. Es wird hymnisch! Hymnisch empfindet auch unser ehemaliger Präsident Christian Wulff, wenn er an Deutschland denkt:
Seit letztem Samstag wissen wir, dass er vorschlägt, in Schulen die Deutsche Nationalhymne zu singen. Ich freue mich darüber – aus zwei Gründen: Christian Wulff steht nicht im Verdacht, ins nationalistische Horn zu stoßen. Schließlich hat er sich 2010 mit dem Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, für eine Gesellschaft ausgesprochen, die die Verbindung sucht, und nicht die Spaltung.
Im Hinblick auf unsere Hymne sagt er: „Wir sind da in Deutschland oft verkrampft, weil wir den Missbrauch von nationalen Symbolen erlebt haben. Aber unsere Kinder sollten wir weltoffen und patriotisch mit Respekt für Verschiedenheit erziehen. Sie müssen die Hymne und ihre Bedeutung in der Schule lernen und sollten auch lernen, sie zu singen."
Ich finde, Christian Wulff hat recht! Und er öffnet eine Tür, durch die ich mit vielen Bremer Jugendlichen in meinem Musikprojekt „Melodie des Lebens” schon seit einigen Wochen gehe. Aber der Reihe nach: als die EM war, freute ich mich über die Hymnen. Über unsere Nationalmannschaft, über diese Vielfalt der Gesichter: Neben Kimmich, Raum und Neuer eben auch Musialla, Tah und Gündogan. Alles Leute, die unser Land repräsentieren. Mit Haltung und Entschlossenheit.
Diese Vielfalt kenne ich aus meiner Arbeit in Bremens Stadtteil Osterholz-Tenever, einem sogenannten Brennpunktbezirk: Beim Fußballgucken bekam ich Lust, der alten Hymne neues Leben zu schenken – mit Elis, Max, Malaika, Maya, Ebuhamza und vielen mehr: Schülern, mit denen ich an der nächsten Melodie des Lebens-Show arbeite – und das ist der zweite Grund meiner Freude über Christian Wulffs Anregung: wir singen bereits! Damit geben wir uns aber nicht zufrieden. Die Hymne dient als Schöpfungswerkzeug. So wie Jazzmusiker auch immer ihre eigene Geschichte erzählen, wenn sie über eine Melodie improvisieren, soll die unsterbliche Melodie eine klingende Bühne für die Jugendlichen sein.
Wir holen die Hymne ins Heute, denn bei den Proben stelle ich fest, dass einige Teile des Textes nur schwer über die Lippen kommen. „Unterpfand“ und das „Vaterland“, durch das man „brüderlich“ geht, lassen den Text als Kind seiner Zeit erkennen, als Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Auch „Blüh im Glanze dieses Glückes“ ist weit entfernt vom Sprachgebrauch heutiger Menschen. Andererseits sind alle von Einigkeit, Recht und Freiheit überzeugt. Da hat Hoffmann von Fallersleben einen Volltreffer für die Ewigkeit gelandet. Nachdem ich mit den Teenagern singend herumprobiert habe, fanden wir gemeinsam folgende Bearbeitung:
Jedem Menschen gleiche Rechte von Geburt bis Lebensend.
Danach lasst uns alle streben, jeder hat fürs Glück Talent.
Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Element,
weil uns alle, weil uns alle mehr verbindet als uns trennt,
weil uns alle, weil uns alle mehr verbindet als uns trennt!
Ich spiele die bekannte Melodie auf dem Klavier, eine andere Tonart, ein bisschen rhythmischer als bei Haydn. Ebuhamza schlägt auf dem Cajon einen Beat, wir singen gemeinsam die Melodie mit dem neuen Text. Das ist eindeutig unsere alte Hymne, aber ganz nah dran an den Leuten, die sie gerade singen. Elis rappt den Text, während die anderen den Chor bilden. Die Hymne dient jetzt denen, die sie singen, ihre Geschichte zu erzählen, in ihren eigenen Worten. Niklas zweifelt an Freundschaften, die darauf beruhen, dass einer den anderen ausnutzt und schafft so seine eigene Definition von Einigkeit. Dass es nicht richtig sein kann, wenn ein Vater über das Leben der Familie bestimmt, weiß Fatima und gibt dem Recht in der Hymne ein lebendiges Gewicht. Die zwölfjährige Ghanaerin Jessy ergänzt den Chorus durch soulige Rufe: „Ich bin so glücklich, dass ich hier bin” singt sie zwischen die Zeilen der Haydn-Hymne und lässt sie wie einen Gospelsong über Freiheit klingen. Wir erleben miteinander, dass uns alle mehr verbindet als uns trennt.
Die Melodie des Lebens ist ein Showformat des Zukunftslabors der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Mark Scheibe. Sie entsteht in Zusammenarbeit mit der Gesamtschule Bremen-Ost.
Noch nicht genug von der Melodie des Lebens? Hier entlang:
Nun zu den Singenden Balkonen – ich kann das Erlebnis, wenn der Funke überspringt und alle auf einer Welle senden und empfangen, nur als großes Glück beschreiben. Gäbe es treffende Worte, bräuchte es keine Musik, keinen Gesang, keinen Tanz. Ein Klick aufs Bild führt zu einem Facebook-Post.
In der Taz erschien dieses schöne Interview.
Die Singenden Balkone sind ein Genuss – und eine Horizonterweiterung: in einer sehr dichten Stunde hören wir Musik aus Hoch- und Popkultur, aus den Straßen der Stadt, aus dem Orient und aus dem Regenwald. Von Profis und von musikliebenden Amateuren, von heute und von vor hunderten von Jahren – alles eingebunden in einen wandelfähigen Konzertklang aus Klavier und Streichern, für ein Publikum aus aller Welt kurzweilig und liebevoll aufbereitet und moderiert.
Ich möchte Euch den Zugang zu den Sängerinnen und Sängern der 9. Singenden Balkone geben, hier in dieser Linksammlung:
Bayati singt seinen Song „Tahet” – hier ist er auf Youtube.
Yasar Kocas ist ein kurdischer Sänger, hier ist er auf Spotify.
Suzan Zahide, eine türkischstämmige Singer/Songwriterin aus Tenever. Wer bei ihrem Gesang nicht weint, hat kein Herz!
Ilenia Marstaller
singt „Vienna“ von Billy Joel, einen Song der frühen Achtziger, der so heutig ist:
Slow down you crazy child
Take the phone off the hook and disappear for a while
It's alright, you can afford to lose a day or two (oooh)
When will you realize, Vienna waits for you?
Sie singt in der Band Mars & Marbles.
Young Voices Bremen ist ein Chorprojekt, dass junge Leute zum Singen bringt.
Janina Gröbler klingt wie eine Gianna Nannini aus Hamburg – und geht sofort unter die Haut!
Wenn die Sopranistin Julia Bachmann ihre Stimme erhebt, fällt jeder Kummer in sich zusammen. Hört selbst:
Caspar Lloyd James, britischer Bariton, der in Paris lebt, singt „Tango d’amour“, Neukomposition aus meinem Liederzyklus „Die Sprache der Verlorenen“ übers Tangotanzen – und alle singen mit!
Kristina Quater ist eine Sensation. In Berlin hat sie ihre ersten musikalischen Wege zwischen einer ganz eigenen Art von heutigem Soul und einer Art von Poetryjazz entwickelt, die ich sensationell finde. Ihre Art, mit ihrer Stimme umzugehen, ist, als wäre sie eine Tänzerin und die Stimme ein Bein oder ein Arm oder der ganze Körper – mir fehlen die Worte!
Die Streicher des Kammerensemble Konsonanz begleiten die Singenden Balkone – mit Wohlklang und Leidenschaft. Ich liebe dieses Ensemble!
Bis nächsten Sonntag, verehrte Lesende!
Wer hat so wunderbar ADHS gesungen? Gibt es die Aufnahme im Netz?
Was für ein wundervolles Projekt, lieber Mark! Musik verbindet, kommt von Herzen und geht zu Herzen. Alle Daumen hoch dafür! 🥰