Nicht dick werden

Über die Row Zero in meiner Zahnarztpraxis

„Nicht dick werden!“ höre ich meine Zahnärztin sagen, während ich einen Meter unter ihrem Gesicht auf dem waagerechten Zahnarztstuhl liege, mit einer Handvoll Watterollen und dem Absaugschlauch im Mund. Ich fühle mich so ausgeliefert wie ein Heidi-Klum-Mädchen während der Bewertung. Frau Doktor hat ja recht: ich habe es in den letzten sechs Wochen geschafft, allein durch Kalorienaufnahme sechs Kilo anzulaiben. Damit habe ich den Gültigkeitsbereich meiner Konfektionsgröße verlassen. 102 (groß und schlank) gilt nicht mehr. Jetzt greift der Herrenausstatter mit dem Profiblick automatisch nach einer 54 (groß und nicht schlank). Die Dentistin hat kein Verständnis für Formverlust. Sie lädt nach und trifft: „Ich sage dir das nicht als Ärztin, sondern als Freundin. Wir bewundern dich alle sehr, wenn wir dich auf der Bühne sehen und du so schön schlank bist. Das darf ich doch sagen, oder?“

Ich stöhne einen Vokal, der auf halber Strecke zwischen „ä“ und dem französischen „en“ ausdrücken soll, dass ich nicht protestiere. Auch, wenn meine Antwort differenzierter ausfallen würde, wenn ich meinen Mund bewegen könnte: sie könnte mich auf der Bühne ja auch für meine schöne Musik bewundern, anstatt mir Konjunktivkomplimente zu machen, während ich wie ein narkotisiertes Groupie auf ihrer Schritthöhe liege. Der Begriff „Fatshaming“ pulsiert in drallen hautfarbenen Blubberbuchstaben vor meinem geistigen Auge.
Ich liege hier förmlich in der Row Zero¹ der Praxis, der Beurteilung meiner körperlichen Tauglichkeit als Bühnenmodel durch meine Zahnärztin ausgeliefert. Hoffentlich ist das Zeug in meiner Mundspülung wirklich Meridol, und keine K.O.-Tropfen. Ich verwandle meine Scham, indem ich innerlich einen Beschwerdebrief an die Ärzteinnung formuliere.

Meine Zahnärztin und ich (Abb. ähnlich) Foto: Wikimedia Commons

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Vor vielen Jahren hatte meine damalige Freundin ihren Laptop neben dem Bett stehen. Wir liebten uns, sie hat die Kamera angestellt, ohne dass ich es bemerkte. Später zeigte sie mir mit stolzem Lächeln den ohne mein Wissen gedrehten Amateurporno. Man sah darin eine sehr schöne Frau mit einem dicken, unansehnlichen Mann. Ich vermute rückblickend, dass sie einen Übergewichtfetisch hatte. Anders kann ich mir nicht erklären, warum mich diese Schönheit damals attraktiv fand. Ich war schockiert über mein Aussehen auf dem Bildschirm. Wenn man sich, wie damals bereits üblich, vor allem über die Selfiekamera wahrnimmt, lernt man seine Handgriffe, das Handy so zu halten, dass man für die eigenen Augen vorteilhaft rüberkommt. Die gnadenlose Totale aus dem Pornolaptop entlarvte aber meine ganze Unförmigkeit. Der Schock wirkte: ich handelte sofort! Schnell einen Stapel Sachbücher über Ernährung gekauft, und schon trennte ich mich von einem Fünftel meines Schwergewichts. Die Freundin verlor ihr Interesse an mir proportional zu meinen schwindenden Kilos. Sollte der Film irgendwann auf Pornhub auftauchen, hoffe ich, dass ich darauf ansehnlicher bin als der wuchtige Till Lindemann in diesem Film. (Triggerwarnung: nicht jugendfrei, nicht gewaltfrei)

Der weltberühmte Rammstein-Sänger und Groupiekonsument, der gerade eine Menge Ärger wegen Missbrauchsvorwürfen bekommt, hat nämlich vorgesorgt. Wahrscheinlich dachte er sich: ich brauche ein zweites Standbein, falls das mit den Konzerten und der Band nicht mehr so läuft. Als Rockstar geht man zum Film, so wie Elvis, Prince und Lady Gaga. Till Lindemann hat sich das Genre „Erwachsenenfilm” ausgesucht und schon mal ein paar Pornos gedreht. Als Seniorendarsteller gibt sich der heute 60-jährige Lindemann authentisch. Er zeigt sich dort fickend, mit mehreren Frauen, die er kräftig festhält, als würden sie sonst weglaufen. Es entspricht also seiner Art zu singen.Ich ahne, was er zu hören bekäme, wenn er bei meiner Zahnärztin in Behandlung wäre.

P.S.: meine Zahnärztin und ich sind per du. Und wir?

1. Dieser Tagesschaubeitrag erklärt, was es auf sich hat mit der sogenannten nullten Reihe auf Rammsteinkonzerten.