Verehrte Sonntagskindleserinnen und -leser,
ich wünsche Euch einen fabelhaften Sonntag voller Zuversicht – und einen freundlichen Blick auf das nicht zu leugnende Elend in dieser Welt. Hoffentlich bin ich irgendwann mal so weise wie der 87-jährige Wolf Biermann im aktuellen Interview mit der ZEIT1. Solange ich das nicht bin, mache ich mich über Hipster in Neukölln und Snobs in Charlottenburg lustig (und über mich selbst, weil mir meine Therapeutin beigebracht hat, dass ich das in Wirklichkeit alles selber bin.) Auch Annabella (Name v. d. Red. geändert) bin ich wahrscheinlich selbst. Meiner Tochter würde das gefallen, sie studiert Gender Studies an der Humboldt-Uni. Die folgende Geschichte ist also so wahr wie sie erfunden wurde. Viel Vergnügen, auch den vielen neuen Abonnenten, herzlich Willkommen beim Sonntagskind, dem zuverlässigen Lieferanten wöchentlicher Frühstücksliteratur!
Zwischen Croissant und Pfirsichmüsli lege ich heute zusätzlich einen Einblick in mein aktuelles Musikprojekt, die 27. Melodie des Lebens. (siehe unten) – nun aber zur Ode an Berlin, dem 154. Sonntagskind:
Annabella (Name v. d. Red. geändert) zieht in ihren Wunschbezirk Charlottenburg, denn Neuköllns Restaurants haben keine Kronleuchter. Austernbars findet man nirgends, nie steht ein ordentlicher Champagner auf den Getränkekarten der lokalen Gastronomie.
Raus aus dem weltberühmten Gangsterbezirk, dessen Straßen von alten Kühlschränken, durchgesessenen Versandhaussofas und zerbrochenen Spanplattenschränken dekoriert sind, rein in den schicken alten Westen! Wo knapp volljährige Models großzügige „Sugardaddys“ zum Kauf von Pradaschuhen und Birkin-Bags inspirieren. Wo das seidene Halstuch nie an modischer Aktualität verlieren wird. Das ist ein enormer wohnkultureller Niveauzuwachs: Der Ku’damm bildet die Bühne für wohlhabende Erfolgsdarsteller, denen die internationale Hipness von Mitte und Prenzlauer Berg kein Heimatgefühl vermittelt. Auch, weil der Chauffeur dort für den Porsche Cayenne noch nicht mal einen unbenutzten Behindertenparkplatz findet.
Ein international ignorierter Chansonnier von Weltrang dichtete einst die Hymne für den Kiez mit dem Schloss:
„In Charlottenburg wünscht man dir einen schönen guten Tag,
selbst die Obdachlosen wählen CDU.
Der Briefträger kennt Nietzsche und trägt stets geputzte Schuh,
ist von hier und nicht aus einem Kalifat.
Der Smalltalk auf dem Gehsteig ist auf Feuilleton-Niveau,
man spricht hier kultiviert, ohne Gebrüll.
Und triffst du einen Fremden, grüßt er so, wie’s sich gehört,
er macht Platz für dich und sammelt deinen Müll.
In der Notaufnahme reicht man dir die Zeitung zum Tee,
in Straßen dröhnen keine Gangsta-Beats.
Charlottenburg, Du Wien Berlins, du einzig wahrer Edelkiez,
du Kolonie des Unterschieds, bei dir wird man gesiezt.”
Annabella hat ihr neues Zuhause über eine Wohnungstauschagentur gefunden. Ich hatte es für aussichtslos gehalten, Leute zu finden, die ihr Charlottenburger Zuhause für eine Bude in Neukölln hergeben. Wer will schon seine Wohnverhältnisse durch einen Bezirksdowngrade freiwillig verschlechtern?
Die meisten Menschen sehnen sich mit zunehmendem Alter nicht nach noch mehr Hundefäkalien vor der Haustür. Auch die Faszination für brandneue Einschusslöcher in den Fassaden lässt in der Regel nach. Zu wohnen, wo Polizisten Todesangst haben, wenn sie mal nach dem Führerschein fragen, ist für Dauerteenager in ihren Zwanzigern cool, wenn sie einen Unterweltfetisch haben. Der verliert aber meist nach einer Weile an Magie. Vor allem, wenn die eigene Kriminalität gerademal ausreicht, dem Jobcenter Nebeneinkünfte aus privatem Cannabisverkauf zu verschweigen.
Annabella also hatte Glück: einem Paar, das sich am Savignyplatz underdressed vorkommt und das mit dem Personal in Cafés gerne Englisch spricht, ist aus Versehen vor ein paar Jahren in Charlottenburg gestrandet, dem Erwachsenenstadtteil mit dem großen Zoo. Die Freunde des Paares haben aufwendig gestaltete Bärte und trocknen ihre Skinnyjeans in Kreuzberger Altbauten. Freundinnen leben in Sonnenallee-WGs und teilen sich die Tische für ihre Macbooks in Coworkingspaces am Hermannplatz. Die beiden haben einen ganz anderen Blick auf die Gegend mit der hohen Kriminalitätsbelastung. Für sie haben die Künstler des alten Berlin ihre Anziehungskraft verloren.
Sie wollen nicht mehr leben, wo Erich Kästner dichtete, dass an allem Unfug auch die schuld sind, die ihn nicht verhindern. Sie sehnen sich nach Neukölln. Dort feilt zum Beispiel Rapper Crystal F. an seinem Werk und schmiedet Zeilen wie „Ich pump’ wie ein Gestörter gleich Kugeln in dein’ Körper“. Auch das etwas kryptische Bonmot „Ich füll’ dein Blut in ein Kondom ein und schick’s deiner Mama aus Bosheit“ stammt vom Neuköllner Poesiegrenzgänger mit dem polarisierenden Künstlernamen.
In Charlottenburgs Kaiser-Friedrich-Straße schrieb Robert Walser „Man passt dahin, wohin man sich sehnt.“
Wie schön, dass hier Platz für uns alle ist. In Berlin.
Neu erfundene Wörter im 154. Sonntagskind: wohnkulturell, Erfolgsdarsteller, Bezirksdowngrade, Dauerteenager, Unterweltfetisch, Erwachsenenstadtteil.
Als ergänzende Lektüre empfehle ich:
Verehrte Ladies & Gentlemen, hier geht es zur Melodie des Lebens, einem Bericht über den Zauber der Begegnung mit der Jugend von heute!
Ein Link zum Interview, der die Bezahlschranke überwindet, wurde mir zugespielt. Was soll ich damit? Ich habe ein ZEIT-Abo!