Letzte Reihe, Mitte. Hätte ich doch nur nicht so gegeizt, als ich das Ringpaket in der Deutschen Oper Berlin gekauft habe – vier Opern1 in einer Woche, unterste Preiskategorie. Geiz ist die niedrigste Form des Prachtmangels. Geiz ist Angst. Angst ist nicht geil. Jetzt sitze ich ganz hinten unter dem ersten Rang, links neben mir ächzt ein Riese im viel zu kleinen Sitz und manspreadet seinen wuchtigen Leib in beide Breiten, er kann nicht anders. Dadurch kann ich zu der chanelbedampften Dame, die in jeder Szene ein Bonbon entpackt, keinen Abstand einnehmen und muss ihr auf die seidige Pelle rücken. Der ganze Ärger nur wegen Prachtmangels! Psychologinnen aller Länder, nehmt das ernst: nennt Prachtmangel Splendidopenie, dann klingt es nach was. Splendidopenie ist ein ernstzunehmendes Problem unserer Gesellschaft. Splendidopenie ist das neue ADHS. Es wird nicht lange dauern, bis jemand behauptet, das sei alles Quatsch, es gibt gar keine Splendidopenie.
Beschränkte Sicht bei offenem Ohr
Für mich gibt es heute kein Mitlesen der Gesangstexte. Direkt vor meiner Nase versperrt ein Beleuchtungskasten den Blick auf die Untertitelung über der Bühne.
Gesang in der Oper ist etwas sonderbares. Ich muss an die genialen „Misheard Lyrics“-Videos aus den 2010er Jahren denken: die Youtuberin „coldmirror“ hat fremdsprachliche Popsongs so erhört, wie das auch Kinder tun.
Wohin des Wegs, Wanderer? Zum Keks, Kamerad!
Das bekannteste Video hat die Bremer Youtuberin mit dem türkischen Popsong „Git hadi git“ gemacht. Dessen Titelzeile hörte Kathrin Fricke alias coldmirror als „Keks, alter Keks“ und stattete ihre charmante auditive Fehlleistung mit entsprechenden Illustrationen aus. So wird das Video zu einem prächtigen Assoziationstrip durchs Gehirn.2 Und wir sehfixierten Zweifler am Klang hören nur, was wir lesen! Das Auge hört mit, das Auge hört mehr.
Glitschiger Glimmer
Zurück in die Oper: ohne Untertitelung verstehe ich kein Wort.3 Die Texte bei Wagner sind eine Art für sich – oft verspottet wegen ihrer lustigen Alliterationen, nähren sie seit 150 Jahren die Vermutung, dass der Meister einen an der Waffel hatte:
„Garstig glatter glitschiger Glimmer!
Wie gleit' ich aus! Mit Händen und Füssen
nicht fasse noch halt' ich
das schlecke Geschlüpfer!“
Und dafür kriegt die Deutsche Oper 40 Millionen im Jahr? Für schleckes Geschlüpfer? Gute Nacht, Deutschland, mag man da denken. Aber ich sage es gleich, wie es ist: so ein hässlicher Neidgedanke ist der reine Prachtmangel. Pracht entsteht nur durch großzügige Gedanken. Vielleicht schimpfst du, man sollte die Kohle lieber der alternativen Tanzszene oder lokalen Punkbands geben. Das darfst du denken, aber achte auf deinen Prachtpegel, er ist wichtig.
Und noch eine andere Ebene kennt der allgemeine Prachtmangel: die rauschignorierende Oberflächenverherrlichung (Superfizialmanie).
Die Grenzen der Schlauheit
Wer versucht, dem Mysterium der Oper beizukommen, indem er an den gesungenen Dialogen Literaturkritik übt, versteht gar nichts. Natürlich ist der Text banal. Allen guten Liedtexten mangelt es an etwas Wesentlichem: der Musik! Dadurch, dass diese Worte gesungen werden, dass Melodie und Sound den Worten eine Heimat in der undurchschaubaren Landschaft der Seele geben, verwandelt sich der unfertige Text in eine berührende, manchmal erschütternde Erfahrung.
Stundenlang zuviel des Guten
Wenn in der Walküre der vereinsamte Siegmund seinen unbekannten Vater ruft, den er dank Wagners Textkunst nur als „Wälse“ kennt, lässt sich ein universaler Schmerz erfahren, den die Musik in Trost verwandelt.4 Einfache Emotionen bekommen in der Oper sehr viel Zeit, bei Wagner dreimal soviel. Dadurch ist so eine Wagneroper das erlösende Gegengift einer vielleicht viel zu durchdachten Zeit. Ein Konflikt wie „A will etwas haben, B rückt es nicht raus” kann schon mal ein paar Stunden ausgekostet werden. Wann sonst gibt man sich emotional einer derart einfachen Sache hin? Meist durchschauen wir im Leben die Lage, klären und verhandeln, aber die Emotionen dürfen nur unterschwellig mitspielen. In der Wagneroper ist Emotion Chefsache. Das merkt man bis in die letzte Reihe; dort sind der Riese, Coco Chanel und ich uns einig: hier mangelt es an Platz, aber nicht an Pracht.
Neu erfundene Wörter im 144. Sonntagskind: Prachtmangel5, chanelbedampft, Splendidopenie, Prachtpegel, rauschignorierend, Superfizialmanie.
Frühstücksliteratur ohne Geschmacksverstärker! Reich an Ballaststoffen und trotzdem lecker! Kein verzuckerter Gesinnungsgelee, keine verwursteten Denkabfälle. Saftige Bekenntnisse, gewürzte Statements mit dem Gelben vom Ei. Auf einer Etagere aus Weltuntergangsbegleitung, Vollkorntrost und guter Laune im bösen Spiel. Jeden Sonntag in der Früh bekommst Du ein belebendes Lesemüsli mit leckeren Gedankenfrüchtchen. Dein Sonntagskind
Reden ist Silber, Wissen ist Macht. Schweigen ist golden, Teilen ist Pracht!
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Mal etwas anderes: ich als Schulabbrecher suche instinktiv die Zugehörigkeit zu Euch schlauen Leuten. Um klug zu wirken, benutze ich Fußnoten. Wie ist das für Euch – hättet Ihr die Fußnoteninhalte lieber im Text oder macht Euch das Nach-unten-Scrollen nichts aus? Danke für ehrliche Antworten!
Der Ring des Nibelungen gilt als Richard Wagners Hauptwerk. Vier Opern mit einer Gesamtlänge von über 15 Stunden: Rheingold, Walküre, Siegfried, Götterdämmerung.
Ein weiterer Blick in den prächtigen Kosmos um Richard Wagner: die Sonntagskindkolumne „Orgienmusik”:
Prachtmangel – ist das ein Oxymoron? Expertin für Oxymorone ist die Harfenistin Anna Maria Steinkogler.
Sie schreibt einen sehr unterhaltsamen und tiefschürfenden Newsletter mit Geschichten aus ihrem Musikerinnenleben. Ich behaupte: Sonntagskindler lieben Anna Marias Newsletter. Hier gibt es ihn.
eine sportliche Leistung, hätte ich nie geschafft.....