„Herzlichen Glückwunsch, liebe Leserin, lieber Leser, hier ist das 188. Sonntagskind – Sie haben mit dieser Kolumne eine hervorragende Wahl getroffen, vergessen Sie all den Rest, der irgendwo geschrieben steht!” – Von einem Selbstbewusstsein, wie ich es diesem marktschreierischen Kolumnen-Animateur in den Mund gelegt habe, kann ich nur träumen. Bei seelischen Mangelerscheinungen habe ich mir angewöhnt, professionelle Hilfe zu suchen. Aber was tun, wenn man eine Reifenpanne hat, den ADAC ruft und dann wird ein Ölwechsel gemacht? Viel Freude beim Lesen …
Ich habe bei Verlagen ein Manuskript eingereicht. Es ist richtig gut, sagen die Lektorinnen. Eigenständiger Stil, sehr unterhaltsam, richtig stark. Man würde es gern veröffentlichen – wenn ich so zehn- oder zwanzigtausend Follower auf Insta hätte.
Hochkultur und Hashtag-Horror
Mist. Ich hatte zwischen Saint-Exupery und Schopenhauer doch schon Platz für mich im Suhrkamp-Regal geschaffen! Um diesen Instaquatsch kümmere ich mich immer nur halbherzig. Vor zwei Jahren bewunderte ich Lars Eidinger, der stolz seinen digitalen Abschied verkündete – und Instagram mit Nahrung aus einem Mülleimer verglich.
Likes machen glücklich – bis man sie zählt
Ich bin nicht so stark wie Lars: Manchmal bespiele ich ja auch die digitale Bühne – und freue mich über jedes Like, jede Resonanz, bin dann mit mir, meinem Werk und der Welt eigentlich ganz zufrieden. Dieses Dopamin ist ein geiles Zeug! Es macht happy. Bis ich sehe, was andere erreichen: Millionenpublikum. Weltumspannende Reichweite. Höfische Verehrungen in den Kommentaren. Sexualisierte Kommentare von seelenwunden Groupies. Dann wird’s finster in mir. Ich sehe nur noch meine erfolgsgestählten Nebenbuhler um die Gunst der Öffentlichkeit – und mich als Online-Opfer in der Gosse der Relevanzlosigkeit.
Digitaler Selbstverrat, powered by Trustpilot
Der Algorithmus riecht meinen Angstschweiß und füttert das kranke Egotier mit hochverzuckertem Dopamin – plötzlich schreien mich Marketingspezialisten in gesponserten Beiträgen an. Diabolisch flüstern mir die Digital-Coaches zu, wie ich in 5 Schritten zur Marke werde – und dabei einfach nur „ich selbst“ sein muss! Teilnehmer ihrer genialen Anleitungen schwärmen: „Nach nur wenigen Stunden habe ich das Potenzial in mir entfesselt, endlich den Erfolg zu haben, der mir zusteht!”
Ich bin so leicht übers Ohr zu hauen. Natürlich buche ich all diese kostenpflichtigen Programme. Nach einem kurzen Alibi-Check auf Trustpilot glüht die Mastercard für den Masterplan. Für flinken Fame kann man ruhig ein paar Fuffis anlegen.
Arbeitsverweigerungssucht?
Ich studiere die Methoden. Mache Pläne, verinnerliche Posting-Strategien und nehme mir viel vor: Notes, Reels, Postings und engagierte Kommentare unter den Beiträgen von anderen Creators. Schließlich tue ich nichts.
Mir fehlt die Disziplin von Typen wie Alfred Hitchcock. Der hat seine Filmdrehs so detailliert geplant, dass das eigentliche Drehen des Films für ihn der langweiligste Part der ganzen Sache war. Ich will auch bei den langweiligen Sachen Spaß haben, ich bin verwöhnt. Einzelkind halt.
Vor mir liegt der ganze in Farbe ausgedruckte Ebook-Mist der Tiktokschlaumeier und Instagramdurchschauer, die mir aufschreiben, was ich wann zu tun habe.
Hallo Ihr Lieben – ich muss mich übergeben
Mir wird leider schlecht, wenn ich unter jedes Posting eine Frage schreiben soll, damit der Algorithmus merkt, wie relevant mein Content wird, durch die Kommentare vom scrollenden Volk. Eine junge Kollegin mit sechsstelliger Followerzahl lächelt meine Verzweiflung weg: „Work smart, not hard“, sagt sie und empfiehlt, einfach zu machen: Kamera an, „Hallo Ihr Lieben“ sagen und drauflos quatschen.
Content-Koma an der Selfbranding-Schamgrenze
Ich fühle mich wie ein Versager. Ich bin der Reel-Rentner. Der Follower-Fantast im Funkloch des Fame-Fiebers. Der Netz-Narzisst ohne Netzwerk. Im Content-Koma erkenne ich: Ich kann nicht. Als Resonanz-Romantiker auf der Reichweiten-Resterampe erscheine ich mir selbst: Der leidende LinkedIn-Loser, der Tiktoktrottel, der Instagram-Invalide. Ich sollte doch Like-Legionär und Hashtag-Hauptmann sein! Stattdessen heule ich als Facebook-Friedhofsgärtner die leeren Kommentargräber voll.
Stromberg hatte recht
Mein innerer General schreit: „Genug gejammert, ab aufs Schlachtfeld, du Memme!“ Aber ich bleibe im Feldbett liegen. Frustriert. Gelähmt. In meinem Kopf tobt ein Trommelfeuer aus inneren Stimmen: „Du musst! Du darfst nicht versagen!“ Der Stromberg in mir ruft: „Kann-nicht wohnt ja meistens in der Will-nicht-Straße.“ Recht hat er. Ich will wohl nicht. Da kann man nichts machen.
Wie ich lernte, mich strategisch zu hassen
Ich google: Krise. Coaching. Hilfe. Ich finde einen Coach, zehn Jahre älter als ich. Er macht den Eindruck, als könne er fokusfragile Freelancer wie mich aus dem Nebel führen. Allein die Aussicht, einem Fremden mein chaotisches Innenleben zur professionellen Entwirrung hinwerfen zu dürfen, hellt meine Stimmung auf.
Mindset first: Om, Umsatz, om
Dann der Termin: Lust auf Veränderung euphorisiert mein kindliches Gemüt, endlich passiert was! Ich freue mich auf erkenntnisreiche Lektionen am Flipchart, an Offenbarungen eines Business-Buddhisten. Der weise Verwandler von seelischer Verspannung in Marketing-Gold soll mich auf die Titelseiten der Feuilletons bringen! Ich hechte die Treppe einer Gründerzeitvilla hinauf und sehe schon ganz deutlich ausverkaufte Theater und eine Verzehnfachung meiner Sonntagskind-Abonnements vor mir.
Man muss so etwas doch deutlich vor sich sehen, damit es klappt. Schließlich wirbt der Coach mit einer NLP-Ausbildung. NLP, neurolinguistisches Programmieren des Mindsets, das ist mein Ding: Nein, keine Psychoanalyse und kein Achtsamkeitsgeschwätz. Therapie ist was für trübe Tassen, ich sage: Coach statt Couch! Klare Analyse der Situation, dann blitzsaubere Marketingstrategie – und endlich ankommen im angemessenen Erfolg. Meinetwegen ganzheitlich und im Einklang mit der Seele, wenn es denn sein muss – Erfolg ist Einstellungssache!
Oben eingetroffen, begrüßt mich ein ruhiger, freundlicher Mann in japanischem Leinen. Es duftet luftig. Ich bin bereit für Strategie, für Sichtbarkeit, Success! Will endlich durchstarten, mein innerer Zwölfzylinder röhrt wie der Angeber-Lamborghini eines 20-jährigen Kudamm-Zuhälters. Nach kurzer Anamnese enttäuscht mich der Meister: „Nimm an, was ist.“ Mein Über-Ich grantelt: „Ganz schön leicht verdientes Geld, mein Freund!” – Kein 10-Punkte-Plan? Anstatt mir das Geheimnis zu verraten, wie ich der neue Beethoven-Nietzsche-Elvis werde, stellt der ruhige Mann eine Frage. Wie es wäre, innere Stimmigkeit herzustellen, bevor ich draußen nach Resonanz jage, will er wissen.
Jetzt habe ich den Psychosalat. Mit Coachingvinaigrette. Aber vielleicht ist das genau die Zutat, die noch gefehlt hat. Ich fülle die Lücke im Regal zwischen Saint-Exupery und Schopenhauer dann erstmal mit Sinn aus. Hoffentlich reicht der Platz. Sonst schule ich um auf Sinnfluencer.
Euer Mark (größenwahnsinniger Grandseigneur des glamourösen Geniekults, Fühltext-Fabrikant mit Follower-Phantomschmerz)
Neu erfundene Wörter im 188. Sonntagskind, in alphabetischer Reihenfolge: Achtsamkeitsgeschwätz, Alibi-Check, Business-Buddhist, Content-Koma, Egotier, erfolgsgestählt, Fame-Fieber, fokusfragil, Follower-Fantast, Follower-Phantomschmerz, Fühltext-Fabrikant, Hashtag-Hauptmann, Instagram-Invalide, Instagramdurchschauer, Kommentargrab, Kudamm-Zuhälter, Like-Legionär, LinkedIn-Loser, Netz-Narzisst, Reel-Rentner, Reichweiten-Resterampe, Resonanz-Romantiker, seelenwund, Sinnfluencer, Tiktokschlaumeier, Tiktoktrottel.
Wer noch mehr neu erfundene Wörter will, schmeißt einen Geldschein in die Neologismen-Jukebox:
PS: Im letzten Sonntagskind bat ich Euch um Rat in Hinblick auf meine neue Kolumne in einem Bremer Stadtmagazin. Hier das Ergebnis:
Zu meiner großen Überraschung ist „Eine Runde Riesenrad” der ganz klare Favorit. Ich danke für Eure leidenschaftlichen Bekenntnisse, sie sind ein Beispiel für den Zauber der Demokratie. Ich kann allerdings noch nicht sagen, ob die neue Kolumne dann auch wirklich so heißt wie die Mehrheit es will. Aber die Mehrheitsmeinung interessiert mich!
Vor kurzem lernte ich Rebecca Blöcher kennen, die faszinierende Filmemacherin. Ich glaube, sie arbeitet ähnlich genau wie Alfred Hitchcock. Über die Begegnung mit ihr im III. Salon der neuen Zeit und das anschließend komponierte Lied habe ich einen kleinen Beitrag gemacht:
Mama Micra
Ende April, Villa Sponte in Bremen. Der III. Salon der neuen Zeit. Im Salon der neuen Zeit stellt Christel Fangmann immer eine Persönlichkeit vor. Diesesmal ist es die Animationsfilmerin Rebecca Blöcher. Sie hat ihren mit dem Bremer Dokumentarfilm-Förderpreis ausgezeichneten Kurzfilm „Mama Micra” mitgebracht, eine die Seele erschütternde Erzählung über …
Ich befürchte, mit dem Coach-Algorithmus wird irgendwann jeder konfrontiert, der sich irgendwo im Netz aufhält. Ich frage mich manchmal, wo kommen die alle her?
Ich bin so begeistert und möchte sofort deine Sonntagskinder kaufen!
Die sind doch wohl auch in Papierform erhältlich?