Verehrte Leserinnen, Leser, Freunde und Lieblingsfremde, Gefährtinnen und Vertraute,
in der Phantasie schwelgen zu dürfen, Euer Frühstückserlebnis mit unterhaltsamer Lektüre zu ergänzen, ist ein Ritual, in dem ich mich seit bald vier Jahren wöchentlich wiederfinde. Mit Freude, Hingabe und dem Vorsatz, tief zu schürfen und dabei leicht zu sein. Letzte Woche habe ich auf der IKF, der Internationalen Kulturmesse Freiburg, mein neues Musikkabarettprogramm vorgestellt. Ich hatte dafür einen Stand gemietet. Am ersten Tag merkte ich, dass kaum jemand von alleine kommt, am zweiten Tag schnackte ich die vorbeikommenden Leute wie ein Koberer auf der Reeperbahn an, um den potentiellen Veranstaltern meine Ware schmackhaft zu machen.
Später fiel jede Scheu, ich warb mit allem diabolischem Charme, verführte vorbeikommende Kulturbetriebler wie eine virtuose Bordsteinschwalbe. Das hier zitierte Milieu bringt mich zum Rausch – und zum Thema der 174. Sonntagskind-Kolumne. Im letzten Mai habe ich mir das letzte Mal so richtig schön die Synapsen flambiert. Mit meinem Freund Peter in Wolfsburg ordentlich die Leitungen durchgespült. Am nächsten Tag trug ich einen veritablen Betonhelm, das Hirn hatte Betriebsferien. Wenn ich daran denke, höre ich immer noch die untalentierte Sambagruppe in meinem Kopf La Paloma pfeifen. Nach der ultimativen Marinierung der Gehirnzellen lallte ich mir den fünften Satz der Säufer-Symphonie vor: „Nie wieder!” Üblicherweise klingt dann schon kurz nach den letzten Takten die leise Hymne des Konterbiers an, aber diesesmal wurde die Phrase Programm: Ich bin durch. Ich hatte genug. Ich bin trocken. Ich versuche es erst gar nicht mit Dryanuary, ich sage Ciao Kakao mit Schuss, Adieu Amaretto, Lebewohl Likör. Darum: Viel Freude mit „Requiem für einen Drink”!
In Bremen lief Anfang der 1980er eine Radiowerbung für den Regionalschnaps „Alter Senator“. Ein fröhlicher Frauenchor zwitscherte mit supersauberen Mentholstimmchen ein unvergessliches Reklamelied, im gutgelaunten passiv-aggressiven Schenk-ein-Imperativ:
„Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag: Alter Senator, der schmeckt jeden Tag.“
Jeden Reim, jeglichen Versmaß ignorierend brannte sich der Weizenkornsong tief in mein Gehirn. Welch Perfidie: Fusel dieser Art sieht man fast ausschließlich in den Händen derer, die den Alkohol nur noch trinken, weil sie ohne ihn nicht mehr auskommen. Die ihre ganze Kohle bereits am Tresen investiert haben, mit einer unschlagbaren Rendite von minus 100%.
„Ich trinke gern mal ein Gläschen“ heißt es, wenn der rauschbegehrende Lebensflüchtling seine innere Not als kultivierten Spleen vernebelt. Aber jedes Schnapsglas hat zwei Seiten: Ich bin rückblickend dankbar für die vielen Arschtritte, die das Feuerwasser meinem melancholischen Temperament verpasst hat.
Ich hätte früher doch niemals den Mut gehabt, fremde Menschen anzusprechen, Frauen schon gar nicht. Ganz zu schweigen von dem Wahnsinn, sich auf eine Bühne zu stellen – und alle starren einen an. Die haushohe Selbstüberschätzung, die es für einen Job wie meinen braucht, wurde von der enthemmenden Wirkung des Alkohols begünstigt.
Dabei spielte es keine Rolle, ob ich mir 100 Jahre alten Champagner oder den Klaren von der Tanke ins mentale Methanolregal gestellt hab. Ob man mit Campari oder Korn das Höllentor zu seiner alternativen Biographie auf dem blühenden Kontinent Saufrika aufstößt, ist nur solange wichtig, wie man sich einbildet, es sei eine stilvolle Angelegenheit, den Zapfhahn zum Krähen zu bringen, die Leber zu massieren bzw. der Durststrecke ein Ende zu setzen.
Cognac hat ein besseres Image als Eckes-Edelkirsch, aber das ist alles Statuskosmetik. Ob Schluckspecht, Schnapsdrossel oder Spriteule: Die Likörlegenden und Pegelpendler, die keinen Barolo unter 80 Euro öffnen lassen, sind genau so arme Schlucker wie Don Promillo und Schnapsone, die mit dem zuckrigen Sangriakarton auf einer Pappe im Eingang der U-Bahn herumliegen.
Ach, ist das schön, aus der moralgepolsterten Warte der überlegenen Lebensführung Wertnoten zu verteilen! Ich bitte um Nachsicht mit diesem charakterlichen Mangel. Nach der Euphorie über eine neue Idee in meinem Leben meldet sich immer so ein innerer Imperator, der eine dicke Linie zwischen mir und dem minderbemittelten Pöbel da draußen ziehen will. Als schillernder Künstler kann ich eben nicht gleichzeitig ein guter Mensch von Jesusformat sein. Man sieht das in der Bibel: Jesus war entweder Wohltäter oder Künstler, nie beides zugleich. Auf der IKF in Freiburg hätte Jesus die Nummer mit dem geteilten Meer für die ganze nächste Saison durchbuchen können. Die anderen Gaukler hätten einpacken können.
Warum nicht die eigene Überzeugung zur universalen Wahrheit erklären? Missionarischer Eifer war doch schon immer ein fester Bestandteil menschlicher Kommunikation, nicht wahr? Darauf einen Doppelten!
Auch wenn dieses Sonntagskind vor dem Hintergrund der Erinnerung an manch umnachtenden Geistesnebel geschrieben ist: Mir liegt viel an sprachlicher Genauigkeit. Das ist meine charakterliche Gegenkraft, die dafür sorgt, dass die maßlose Chaos-Seele nicht jeden Tag ins Leere fließt. Darum hier der erste Beitrag zur neuen Rubrik „Schlaumeierei am Sonntag“:
Seit einiger Zeit stört mich der allgemeine Gebrauch des politischen Begriffes „rechts“. Als ich klein war, gab es drei Fernsehprogramme. Und drei politische Positionen: Links, Rechts, Mitte. Damals namentlich von SPD, CDU und FDP besetzt. Zusätzlich gab es am Rand die extremen Positionen. Linksextrem die DKP, rechtsextrem die NPD. Die CDU als rechte Kraft ist ein Teil des demokratischen Spektrums. Die AFD als rechtsextreme Kraft nicht. Können wir alle bitte dafür sorgen, rechts und rechtsextrem voneinander zu differenzieren? Auch wenn wir die CDU/CSU nicht mögen, weil wir sie womöglich rechts von unserer eigenen Anschauung wahrnehmen, ist sie nicht in der Nähe derer, die den Klimawandel leugnen und immer wieder den Nationalsozialismus verharmlosen. Die CDU ist rechts, die AFD rechtsextrem. Wir sollten nicht so gesinnungsbequem sein, extreme und demokratischen Positionen über einen Kamm zu bügeln. Amen.
Wenn Hitler Kommunist war, wie uns die promovierte Ökonomin Alice Weidel aufklärt, bin ich als überparteilicher Salonhedonist jetzt aber auch ein Linker: Immer auf der Seite der Unterdrückten! Die Unterdrückten, das sind jetzt gerade die, um die ich sonst immer einen großen Bogen gemacht habe, die Intellektuellen. Für mich, der ich als Abiturverweigerer in einem Schattenreich des Geistes hause, waren Intellektuelle immer verklemmte Leute, die „freilich“ und „durchaus“ sagen und von „Begrifflichkeiten” und „Problematiken” sprechen, obwohl sie Begriffe und Probleme meinen. Verzauselte Vögel, denen gern mal eine Vokabel wie „Paradigmenwechsel“ über die Laberzunge kommt. Da sah ich mich immer als Vertreter einer wichtigen Gegenkraft aus dem Reich von Emotion, Leidenschaft und Sinnlichkeit. Ich will meinen Geltungsbereich nun erweitern. Wenn in den USA ein Coronaleugner Gesundheitsminister werden kann, braucht die Front der Gebildeten und Schlauen Unterstützung. Ab sofort nicke ich verständig, wenn irgendwo von Hegel, Sartre oder Camus die Rede ist. Ich bin jetzt einer von Euch, Brainis! Zwar singe ich „Annabella, Annabella, ich war noch nie ein Intellektueller” – aber damit ist jetzt Schluss. Ich kaufe mir einen Bibliotheksausweis und mache, aus purer Solidarität, ab sofort bei Euch mit.
Als Neo-Intellektueller habe ich erhöhten Förderungsbedarf. Das ganze Abiturwissen, Grundlagen in den wesentlichen geisteswissenschaftlichen Fächern – das kann ich mir jetzt nur noch über ChatGTP und Youtube reinhobeln. Um auf diesem faustischen Kurs nicht größenwahnsinnig zu werden, muss ich die teuersten Therapeutinnen bemühen – und freue mich über jede Unterstützung!
Liste neu erfundener Wörter im 174. Sonntagskind:
Kulturbetriebler
Regionalschnaps
Mentholstimmchen
Schenk-ein-Imperativ
Lebensflüchtling
mentales Methanolregal
Saufrika
Statuskosmetik
moralgepolstert
Jesusformat
gesinnungsbequem
Abiturverweigerer
Schattenreich des Geistes
Salonhedonist
Laberzunge
Unter uns, Freunde – zwei Fragen: Wer soll in der nächsten Runde Deutschland regieren und was schätzt Ihr, wer gewählt wird? Danke fürs Mitmachen, für einen Intellektuellen sind statistische Erhebungen wichtig.
Auf Euch, liebe Gemeinschaft – bis nächsten Sonntag,
Euer Mark
Amen, lieber Mark! Danke für die Worte.
ein Traumergebnis.......