In den USA schaffen es Lieder aus dem „Great American Songbook“ auch nach fast hundert Jahren immer wieder in die Charts. Selbst Lady Gaga singt Gershwin und Cole Porter. Die Italiener haben ihre Cantautore: Sängerinnen, Sänger, deren Lieder für ihre Relevanz und Emotion geliebt werden. In Frankreich freut man sich am Chanson, der noch immer aktuell ist. Und wir? Haben den Ballermann. Weltoffen wie wir Deutschen sind, haben wir unsere abgespaltene Lust am Singen ins Mittelmeer ausgelagert. Jetzt kommt sie zu uns zurück. Ich sehe das als Chance.
Mir ist aufgefallen, dass der Melodiebeginn vom Chorus des Offenbarungshits „Layla“ mit dem Anfang der 5. Symphonie Beethovens identisch ist. Mit den Worten „Ich hab n Puff …“ erklingen dieselben vier Schicksalstöne wie bei der berühmtesten Symphonie der Welt. Wenn auch in einer anderen Tonart. Ist das der Wink einer übergeordneten Macht? Eine moralische Belehrung von höchster Instanz? Ist das Triviale dem Erhabenen näher, als wir wahrhaben wollen?
Der Grundton der Gesellschaft
Der von Mickie Krause, Tim Toupet und Ikke Hüftgold dominierte Werkekanon erobert gerade die popmusikalische Bundesliga. Sexualisierte Freizeithits zum Mitsingen blockieren die ersten Chartsplätze. Lieder für diejenigen Musikliebhaber, deren Libido erst bei 2,5 Promille so richtig erwacht. Diese erheben ihre biergepflegten Stimmen seit ein paar Wochen auf dem Grundton der Mitte der Gesellschaft. Mirja Boes, die sich selbst als „Comedy-Milf“ bezeichnet, nennt die geschlechtsinspirierten Songs fürs gemeinschaftliche Grölen „Gliedgut“. Sie selbst schuf mit dem Aufklärungslied „Das sind nicht 20 Zentimeter“ einen Evergreen des Genital-Genres.
Das alles wurde bisher vom Kulturjournalismus nur durch Gitterstäbe betrachtet: als handelte es sich bei den Rauschfreunden mit Schlüpfrigkeitsbedarf um tumbe Triebsklaven, die sich aus einem Trog mit Abfällen der Musikindustrie nähren. Bestien im Zotenzoo, Lustgefangene im Pornokäfig.
Die Ballermann-Beethovens: Speerspitze der Hitschreiber
Jetzt kann das Feuilleton nicht mehr so tun, als wäre die Partyschlagerbewegung ein Minderheitphänomen auf Insektenniveau am unteren Rand der Gesellschaft. Mit Beats vom Baumarkt und Songtextskills von Achtklässlern bilden die Ballermann-Beethovens die Speerspitze der Hitschreiber. Es wird nicht lange dauern, da werden sich die Salzburger Festspiele überlegen müssen, ob sie das Champagnerangebot in der Konzertpause nicht doch durch Sangria-Eimer ergänzen. Die Melodie von „Freude schöner Götterfunken“ ist schließlich auch nicht komplizierter als „Layla“.
Sollten wir Deutschen nicht dankbar sein, dass bei uns wieder gesungen wird? Die Los Angeles Times schrieb um die Jahrtausendwende noch, dass Deutschland zwar das Land von Bach, Beethoven und Brahms sei, aber den Menschen das Singen peinlich ist. Außer, sie sind hackedicht.
Keine hundert Jahre vorher begeisterte sich Thomas Mann über das Besondere im deutschen Gesang: „Etwas national völlig Einmaliges. Zartheit, Tiefsinn des Herzens, unweltliche Versponnenheit, Naturfrömmigkeit, reinster Ernst des Gedankens und des Gewissens mischen sich darin.“
German Sing-Furcht
Den Naziterror hat Thomas Mann dann noch erlebt – und wie das gemeinsame Singen als Manipulation der Gesellschaft missbraucht wurde. Ist das der Grund, warum Bertolt Brecht „rauschhafte, benebelnde Musik“ verabscheute? Wenn Musik die Körpertemperatur hebt, taugt sie nichts, irrte er. Sein Slogan „Glotzt nicht so romantisch“ löste womöglich die berühmte deutsche Gefühlsangst und Ausdruckshemmung aus, die uns heute neidisch auf singende Italiener blicken lässt, die ganz selbstverständlich in schönstem Belcanto harmonieren. Auf Russinnen, die textsicher Kosakenhymnen schmettern. Auf ekstatischen Chorgesang in US-amerikanischen Gospelkirchen.
Der Musikpsychologe Karl Adamek analysiert, dass das gemeinsame Singen in der fortschrittlichen Demokratiebewegung nach dem Krieg verpönt war. In der Neubestimmung von Schulunterricht und Kindergarten in den 1960er Jahren wurde es als antiquiert wahrgenommen und ersetzt durch: nichts.
Jetzt ziehen die Schlüpferchansoniere von der Schinkenstraße in den Kampf gegen die Angst der Deutschen vorm Gesang. Es tut ja auch sonst niemand1, und irgendwo muss man ja beginnen. Es ist noch ein langer Weg, bis sich wieder ein Jahrhundertschriftsteller über die deutsche Eigentümlichkeit beim Singen begeistern kann. Übung macht den Meister. Ich schlage vor, wir singen alle mit: La-la-la-la-la-la-la-Layla!
P.S.: Von Jörg Thadeusz in ein Gespräch verwickelt zu werden, ist ein Abenteuer. Kürzlich durfte ich ihn bei WDR2 besuchen, wir tauschten uns in dieser inspirierenden Stunde auch über Layla und die Kunst der Melodie aus.
P.P.S.: In Jörgs Fernsehsendung “Thadeusz & die Künstler”, ein paar Tage später, konnte ich es nicht lassen, eine eigene Fassung von “Layla” zu singen – und sie mit Kurt Weill zu mischen.
Stimmt nicht ganz! Cem Arnold Süzer und Gunter Papperitz betreiben seit einigen Jahren erfolgreich “Sing de la Sing”, ein konzertantes Get-Together, bei dem ein immer größer werdendes Publikum zugleich aktiver Chor ist – die Texte großer Hits werden projiziert, alle singen mit.