Verehrte Sonntagskind-Freundinnen, Leser und Geneigte,
heute schreibe ich euch aus dem bayrischen Hammelburg. Hier schweigen die Lämmer nicht, hier singen sie. Ich bin auch eins – und werde hier mit Erkenntnissen beschenkt, die ich nicht für mich behalten kann. Ich wünsche einen schönen Sonntag. P.S.: wer nicht selbst lesen mag, hört dieses Sonntagskind als Podcast.
Euer Mark
Wenn das autonome Nervensystem eine lebensbedrohliche Situation erkennt, sollte man wenigstens gut angezogen sein. Titelbild der 116. Sonntagskind-Kolumne nach einem Photo von Martin Peterdamm
Wir sind Mangelfetischisten. Fehlerfreaks. Peinpioniere und Leidensprofis. In der Schule lernen wir, unser komplexes, gerade sechsjähriges Menschsein in einem gnadenlosen Bewertungsraster zwischen Edel-Eins und Höllen-Sechs zu erleben. Später, wenn wir wissen, wie schwer es ist, Befriedigung zu erlangen, wundern wir uns: in der Schule ist „befriedigend“ mit „mittelmäßig“ identisch. Kein Wunder, dass die wenigsten von uns mit sich selbst zufrieden sind.
Alles, was Zwang und Dramen hat
Und weil wir als Selbsterniedrigungsexperten zu anderen immer nur so gut sind wie zu uns selbst, machen wir auch den Rest der Welt fertig, wir haben es schließlich so gelernt. Die Christen unter uns finden es in Ordnung, ein Folterinstrument anzubeten. Die Katholiken brauchen es noch ein bisschen härter: für sie muss es der verwundete Leichnam sein, dem in seinen letzten Lebensstunden noch eine dornige Krone für die finalen Schmerzen aufgesetzt wurde. Nägel in Händen und Füßen reichen nicht, um den Verehrern von Drangsal und Marter religiöse Erfüllung zu bereiten. Was IHN umbringt, macht uns stark!
Lämmer, Hammel und der Flow
Dem Lamm Gottes bin ich nie so richtig nahegekommen. Bis ins bayrische Hammelburg habe ich es aber immerhin geschafft: zu einem Seminar für Stimmbildung. Im Zentrum steht die These: nur wenn ich mich wohlfühle, kann meine Stimme gut klingen. Die beiden Kursleiter, eine Sängerin, ein Sänger – bieten hier keinen Gesangsunterricht im klassischen Sinne. Aber auch kein hippie-bekifftes Feelgood-Happening. Es geht um Erkenntnisse aus der Neurologie, der Wissenschaft vom Flow, und immer wieder: emotionale Sicherheit erfahren, die notwendig ist, damit die Stimme sich erheben kann.
Die fiese Frau Feilke
Wenn es um die Stimme geht, geht es ans Eingemachte, niemand kann sich hier hinter Erlerntem verstecken. In der Schule war Singen ein Fach wie Mathematik: Musiklehrerin Frau Feilke erklärte mir in der 1. Klasse: „Du kannst nicht singen.“ – ich verstummte sofort. Später wollte ich trotzdem Musik machen und Komponist werden. Als Komponist aber seine eigenen Melodien nicht singen können? Das ist wie ein Maler sein, der nicht sehen kann. Also habe ich nach und nach begonnen, die von Frau Feilke zerstörte Verbindung meiner Stimme zu meinem Wohlgefühl wieder herzustellen – sie beschäftigt mich noch heute.
Singen kann wie Atmen sein
Ich beneide den Sänger Rabih Lahoud, einen der beiden Kursleiter. Er sang schon als Kind. Ganz natürlich, mit der Familie im Libanon, alle haben gesungen. Niemand, erzählt er, wäre auf die Idee gekommen, ihn dafür negativ zu bewerten. Musikmachen war eine natürliche Sache. Seine Kollegin Lindsay Lewis kennt die Ratlosigkeit und Abwehrhaltung an Musikhochschulen im Umgang mit befreitem Singen.
Lindsay Lewis und Rabih Lahoud sind keine Mangelfetischisten und Fehlerfreaks. Sie sind Überflussfreunde und Stimmigkeitsexperten – jenseits einer Welt, in der nur richtig sein darf, was nicht falsch ist.
Amtliche Emotionszurückhaltungsverordnung
Was ist bei uns in Deutschland eigentlich passiert? Die Nazis verstanden es, die befreiende Kraft des Singens mit ihrer grausamen Ideologie zu vermischen. Nach ihnen setzte sich ein Emotionsverbot beim Singen durch. Die Gegend zwischen Nordsee und Alpen war zwar noch nie ein Belcantoparadies, auch nicht vor der freiwilligen Knechtschaft unter dem kleinen Österreicher mit dem angelernten Pathos in der Sprechstimme. Aber nach dem ethischen Inferno verurteilte mit Brecht und Adorno eine ganze Gesellschaft die sängerische Hingabe. Leidenschaft in der Musik war plötzlich verdächtig. Beim Singen galt sie als unangebracht. Obacht statt Flow, Misstrauen dem eigenen Gefühl gegenüber setzte sich als institutionalisierte Grundhaltung beim Singen durch.
Trommelfell und Gänsehaut
Rabih und Lindsay finden in der Analyse jahrtausende alter Vorgänge des autonomen Nervensystems Hilfe für den guten Sitz der Stimme. Einfach zusammengefasst: ein den ganzen Körper umspannendes Nervenkostüm sendet dem Gehirn ständig Signale über die aktuelle Sicherheitslage. Werden wir kritisiert oder fühlen wir uns unsicher, ist das Nervensystem im Gefahr-Modus – mit unmittelbarer Auswirkung auf den Stimmklang! Das Trommelfell gibt dann einen Teil seiner Spannung auf, um tiefe Geräusche besser hören zu können: das Grollen einer nahenden Horde Wildtiere, das bedrohliche Knurren eines gefährlichen Tieres. In diesem Zustand ist die Fähigkeit zu hören eingeschränkt – und die Fähigkeit zu singen. Umgekehrt wird im Zustand lebhafter Sicherheit ein Botenstoffcocktail ausgeschüttet, der uns in die Lage versetzt, das Glück des Lebens über den Klang unserer Stimme mit anderen zu teilen.
Ich finde diese Erkenntnis befriedigend. Sie hat das Zeug, meine persönliche Höllen-Sechs von Frau Feilke zu zerstören. Wer singt, zeigt sich in seiner Verletzlichkeit. Der Gekreuzigte mag Wein in alte Wasserkrüge gezaubert haben, aber wenn beim Singen eine innere Berührung entsteht, ist das ein Wunder – ein ganz reales Wunder, das wir mit Gänsehaut erleben können.
Mehr über Lindsay Lewis und Rabih Lahoud
In Bayern ist es verboten, dass irgendwo kein Kruzifix hängt. Landesmusikakademie Hammelburg.
WICHTIGE MITTEILUNG DER SONNTAGSKIND-REDAKTION
„Kannst du dich mal entscheiden? Was soll das Hin und Her. Erst Substack, dann Steady, dann wieder Substack, hast du sie eigentlich noch alle?” fragt mich mein innerer Chefredakteur. Er hat ja recht. Ständige Umzüge sind auch nicht gut für die neuronale Sicherheit. Damit ist jetzt aber Schluss – Sonntagskind bleibt jetzt hier, fertig aus. Der Autor bittet für die Irritation um Verzeihung. 🧡
Früher, als Marcel Reich-Ranicki noch lebte, dachte ich: Bücher werden immer nur runtergemacht. Über Peter Pranges „Eine Familie in Deutschland” juble ich! Lies die erste Donnerstagskolumne im Sonntagskind:
Jetzt möchte ich euch noch an meiner Neugier auf einen besonderen Theaterabend teilhaben lassen. Es geht darin um Dolce Vita und die nicht immer so dolce Realität: Lazy Women!
Vor ein paar Jahren war ich im Berliner Ensemble. Dort lief „Pretty when you cry”. Auf der Bühne waren fünf Frauen in Bademänteln, die sich in einer wahnsinnig komischen Art und Weise mit der Berufsrealität von Schauspielerinnen beschäftigt haben. Dieses Stück hat mir die Augen geöffnet und meine Aufmerksamkeit für Frauenrollen geschärft – auf charmante Weise, ganz ohne feministische Kampfattitüde. Einer meiner Lieblingsmomente war eine Collage aus Sterbeszenen berühmter Klassiker mit den entsprechenden Regieanweisungen aus Reclamheften. Jetzt bringt Therese Lösch, eine der Autorinnen des Quintetts, ihr erstes ganz eigenes Stück auf die Bühne: In „Lazy Women” beschäftigt sie sich mit dem Spannungsfeld zwischen Faulheit und Arbeitswahn – auch in ihrem Regiedebut geht es um das sonderbare Leben von Schauspielerinnen. Eine blickt am Anfang ihrer Laufbahn in eine Zukunft aus Bewerbungen und Vorsprechen, die andere schaut mit einer jahrzehntelangen Karriere auf ihre junge Kollegin und fragt sich, wie sie „drinbleiben” kann und ob sie das überhaupt will. Der Berliner Theaterdiscounter eröffnet mit „Lazy Women” diese Spielzeit. Ich freue mich sehr auf einen bewegenden, unterhaltsamen und tiefgehenden Theaterabend: 31.8.-3.9., Tickets gibt es hier.
Spricht mir aus der Seele, ..mein erster Musiklehrer hat mir nachhaltig die Freude am Singen vergällt.