Meine Tochter studiert jetzt Gender Studies. Wir sitzen in der Bar Galander am Stuttgarter Platz. Sie kommt gerade von der Uni. Ihre Erschöpfungsblässe will auch nach dem dritten Negroni Sbagliato1 nicht weichen. Nach einer Weile zeigt sie mir den Text, über den sie eine Hausarbeit schreiben muss, und ich verstehe ihre Entkräftung. Ich denke, dass der Text eine Parodie ist, dass die Universität sich einen Spaß mit den „Neuen“ macht. Meine Tochter versichert mir aber die Seriösität des Unterfangens. Ich lese:
„Zwischen dem antifundamentalistischen Impetus, mit dem der Reifikationsvorwurf an die ältere Frauenforschung vertreten wird, und der tatsächlichen empirisch-theoretischen Tätigkeit der Rekonstruktion der Herstellung von ,Sex’ und ,Gender’, von Differenzierung und Hierarchisierung, klafft häufig ein Widerspruch.“2
Bedeutungskredit mit 0% Zinssatz
Ich halte das für Blabla in wissenschaftlicher Wortwahl. Als würde man sich einen neuen Anzug fürs Gespräch mit der Bank anziehen, weil man denkt, dass man deswegen den Kredit bekommt. Aber ich will nicht so arrogant sein. Ich gebe Bedeutungskredit: wird schon was dran sein! Im Deutschlandfunk kommen manchmal die Nachrichten in „Leichter Sprache“. Da werden Gesetze nicht verabschiedet, sondern beschlossen. Da rudert auch niemand zurück, sondern ändert einfach seine Meinung. Leichte Sprache ist verständlich. Mal sehen, ob es gelingt, diesen Text zu verstehen:
Sprachlicher Hoch- und Tiefbau
Erstmal muss ich wissen, was ein Reifikationsvorwurf ist. Das Lexikon erklärt: Reifikation = Konkretisierung. Ich finde außerdem heraus, dass man von Reifikation spricht, wenn man einen abstrakten Sachverhalt so behandelt wie einen konkreten. Aha. Der älteren Frauenforschung wird also vorgeworfen, dass sie unberechtigterweise konkret ist. Von wem, steht da nicht. Auf jeden Fall wird der Vorwurf mit einem antifundamentalistischen Impetus gemacht, also mit der Absicht der Erneuerung. Diese Absicht widerspricht einer gewissen empirisch-theoretischen Tätigkeit. „Empirisch-theoretisch“ ist so etwas wie „hell-dunkel“, also sprachlicher Hoch- und Tiefbau gleichzeitig. Die Rekonstruktion der Herstellung ist die Wiederherstellung der Herstellung. Von was? Von „Sex“ und „Gender“, von Differenzierung und Hierarchisierung.
Die Geheimnisse intellektueller Texte entschlüsselt man am besten in einer Cocktailbar.
Foto: Chelsea Marie Hicks, Wikimedia Commons
Der Schwafelsound strenger Adornoschwestern
Ich wage eine Zusammenfassung in Leichter Sprache:
Manche Menschen mögen nicht, dass die Frauenforschung früher einfach war. Sie wollen die Herstellung von dem Geschlecht am Körper und dem Geschlecht im Gefühl nochmal herstellen. Sie wollen außerdem, dass eins davon wichtiger ist als das andere. Das wollen sie in alten Büchern nachlesen. Sie wollen es auch selbst herausfinden. Das passt alles nicht gut zusammen.
Ich beginne, mich im Nebel der Bedeutungsvielfalt wohl zu fühlen, schwelge im Schwafelsound strenger Adornoschwestern3 und bin ein bisschen high von der Idee, dass alles gleichzeitig stimmt und auch wieder nicht. Schöner Schein von Sinn und Substanz! Ich frage mich, ob das Verfassen solcher Texte einen eigentlich sexuellen Impuls ins Intellektuelle verlagert und dort ein vergleichbares Vergnügen bereitet? Das wäre auf jeden Fall ein antifundamentalistischer Impetus! Ich will weiterlesen:
„Unter der Hand setzt sich sogar eine Variante von Reifizierung der Geschlechterdifferenz fort: nun als Prozesskategorie, wenn unter der Prämisse einer Omnirelevanz von Geschlecht das fortlaufende ,doing gender’ als kontinuierliche und simultane Hervorbringung von Differenz und Hierarchie nachgezeichnet wird.“
Meine Tochter erklärt mir beim finalen Mojito, dass mit „doing gender” der eigene Anteil einer Person an der Geschlechtsidentifizierung gemeint ist. Mit dem neuen Wissen und der Ergoogelung des Wortes „Omnirelevanz” versuche ich auch diesen Absatz in Leichter Sprache:
Heimlich machen sie Unterschiede zwischen den Geschlechtern. In unserer Gesellschaft ist es üblich, dass man als Frau oder Mann geboren ist. Das wissen diese Leute. Sie finden, dass man auch selbst entscheidet, ob man Mann oder Frau ist. Oder etwas anderes. Und dass das verschieden ist. Eins davon ist besser als das andere. Und zwar gleichzeitig und nacheinander.
Ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen. Ich bin schon mit Anfang 20 daraufgekommen, dass ich mich aus weiblichen und männlichen Seelenanteilen zusammensetze. In meinem Fall in einem männlichen Körper. Wir würden uns alle einen Gefallen tun, wenn wir nicht so streng mit uns wären – ich begrüße die Auflockerung geschlechtlicher Zuschreibungen. Danke, dass du bis zum Ende gelesen hast. Zur Belohnung will ich beweisen, dass der komplizierte Text gesungen viel mehr Spaß macht, irgendwie spürt man dann auch, was er bedeutet. Dann war der Kredit nicht umsonst. Aber bitte mach mir keinen Reifikationsvorwurf.
Liebe Leserin, lieber Leser. Als Bühnenkünstler bin ich Applaus gewohnt. Auch, wenn es dir profan vorkommt: ein “Like” fühlt sich gut an. Auch freue ich mich über einen Kommentar. Das Abo bringt dir Sonntagskind jede Woche per Mail. (Es kostet nichts). Einen schönen Sonntag und danke fürs Lesen!
4 cl Campari, 4 cl Vermouth, 4 cl Prosecco, Orangenschale.
Differenz und Dekonstruktion: Anmerkungen zum “Paradigmenwechsel” in der Frauenforschung, Gudrun-Axeli Knapp
Die Brüder sind hier mitgemeint. “Strenge Schwestern” klingt einfach besser als “strenge Brüder”.
großartig!!!!!
...dieser hochtrabenden Quatsch, den die sog "gender studies " da absondern, wird man in 10 Jahren vergessen haben , und erneut auf Lyotard und Derrida zurückkommen....Es lebe das generische Maskulinum !