Den übers Jahr hart erarbeiteten Selbstvorwürfen folgen gute Vorsätze. Die üblichen: nicht mehr so viel saufen, mehr Bewegung. Schluss mit den Mandelhörnchen, Kampf dem Zucker. So ist das im Januar. Der Januar ist ein gnadenloser und hochbegabter Verkäufer mit nur einem Produkt im Angebot: Kargheit.
Vor nicht einmal zwei Wochen: ich lümmele in der gemütlich beheizten Strandbar auf Spiekeroog in einem Derrick-Sessel und erlebe die Vollendung menschlichen Daseins durch gepuderzuckerte Frühstückswaffeln. Aus dem kleinen Bluetooth-Lautsprecher auf dem Tresen mischt sich leiser Sixties-Soul mit dem Fauchen des Windes durch die Dünen draußen. Der Sekt hier heißt „Dicker Fritz“. Schon um 11 Uhr 30 macht der Dicke Fritz eine gute Figur, der ausgemergelten Jahresendseele spendiert er wohltuende Wattierung. Gleichzeitig verschlankt er die beim Genussrausch störende intellektuelle Breite. XS für den Geist! Mit Einbruch der Dunkelheit steht der Leuchtturm der Besinnungslosigkeit schon sicher auf einem soliden Fundament aus Zuckerzement und Promille-Beton – er leuchtet mir den weiteren Weg: Sanddorntorte und Pikkolöchen, dann Pizza, Rotwein, Tiramisu, Limoncello. Später, vorm Zubettgehen und nach dem Zähneputzen noch den Rest Nudeln von gestern trunken und lustlächelnd aus dem Topf kratzen. Verwahrlost in den Schlaf stürzen, dann nach dem Frühstück am nächsten Morgen: zehnminütiger Alibi-Spaziergang an der frischluftigen Brandung. Anschließend noch nicht mal ansatzweise durchgefroren in die warme Bar. Mit der Disziplin eines Extremsportlers geht es gleich wieder in den Derrick-Sessel zum Dicken Fritz.
Für die Jüngeren unter den Sonntagskind-Usern: Derrick war der Name eines Fernsehkommissars, der von 1974 bis 1998 freitags zur Primetime im ZDF ermittelte, 281 Folgen lang. Oft verspottet und vom Feuilleton geringgeschätzt, wurde „Derrick“1 die erfolgreichste deutsche Fernsehserie aller Zeiten. Meist wurde brillantes Theater vor der Kamera gespielt: Bühnengrößen der Nachkriegszeit zeigten uns in Derrick die Abgründe bürgerlicher Charaktere. Starkes Schauspiel mit wenig Bildschnitt. Wer etwas über den bundesdeutschen Zeitgeist der 70er bis 90er Jahre erfahren will, muss Derrick schauen. Derrick erinnert uns auch an ein Frauenbild, ohne das es den Bechdel-Test nicht geben würde: der Bechdel-Test wird als einfaches statistisches Hilfsmittel verwendet, um auf sexistische Geschlechterklischees in Spielfilmen hinzuweisen. Es wird geprüft, ob eigenständige weibliche Figuren vorkommen. Die Testfragen: Gibt es mehr als eine Frauenrolle? Sprechen die Frauen miteinander? Sprechen sie über etwas anderes als einen Mann? Haben die Frauen Namen? Viele Derrickfolgen sind in dieser Hinsicht schmerzhaft, wenn sich die Herren mal wieder über eine anwesende stumme Frau unterhalten und von ihr als „dem Mädchen“ sprechen. Außerdem schenkt uns fast jede Derrickfolge Monumente einer Dialogkunst, die einen nach ein paar Flaschen Dicker Fritz nicht überfordert:
Harry: Tja, da können wir nichts anderes tun als warten.
Derrick: Warten?
Harry: Abwarten.
Derrick: Worauf?
Harry: Dass irgendwas passiert.
Derrick: Warten, dass was passiert? Nee, Harry, das kann ich nicht.2
Genau die richtigen Worte für den kargen Januar, oder?
Diesen großartigen Wortwechsel aus der Feder von Drehbuch-Ikone Herbert Reinecker zwischen Oberinspektor Stephan Derrick und seinem Assistenten Harry Klein hat der Schriftsteller Harry Luck auf seiner Facebookseite veröffentlicht.
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Unvergesslich: "Harry, fahr' schon mal dem Wagen vor..."
Übrigens: Derrick wieder im deutschen Fernsehen zu zeigen, empfielt Thilo Wydra im Tagesspiegel.