Warum Meinung nicht tröstet
Ungetauft, aber ganz vorne mit dabei
Liebe Lesende, herzlich Willkommen zur letzten Kolumne des Jahres, der 221. auf dieser Frequenz – dem direkten Blick ins Innere der Gesellschaft, liebevoll gesehen durchs Monokel eines freundlichen Snobs, der nicht versteht, dass die Welt kein Champagnerbuffet ist.
An diese erschütternde Realität erinnerte mich die DB am 2. Weihnachstag, indem sie mir einen Zwangsaufenthalt auf unbestimmte Zeit auf dem schönen Bahnhofsvorplatz von Angermünde schenkte.
Ich wurde allerdings reichlich entschädigt: mit der Bekanntschaft einer Halle’schen Improtheaterschauspielerin, eines Brandenburger Gefängnispsychologen und einer promovierten Islamwissenschaftlerin, die in London als Coach arbeitet. Als Schicksalsgemeinschaft verließen wir das untergehende Angermünde mit dem Taxi, in dem wir gemeinsam mit der Fahrerin Weihnachtslieder sangen – Stoff für eine eigene Kolumne. Heute aber erstmal: Mein Weihnachtswunder (das andere) – viel Spaß beim Lesen
Euer Mark
Spontanbekehrung ohne Taufschein
In der Nachmittagsstille des 24. Dezember packt mich der Heilige Geist: Obwohl ich noch nicht mal getauft bin – ab in die Kirche zur Christmette. Es muss die Einsamkeit der vergangenen Wochen sein, die mich spontan von meinem Hausboot ins Gotteshaus treibt.
Prozession mit Lackschuhen
Ich setze Himmel und Hölle in Bewegung, um rechtzeitig da zu sein, strampele wie vom Teufel besessen in die Pedale. Im sakralen Donnerglockenklang komme ich gerade noch rechtzeitig und schließe mein Rad an. Der Küster steht in der Kirchentür und bedeutet mir, mich zu beeilen. Hinter mir macht er den Laden dicht. Vollbesetzte Kirchenbänke und andächtige Grabesstille, der Weißgewandete harrt in seiner Startposition des Ritus’. Ganz vorne, sagt der Küster, ist noch eine Lücke in der ersten Reihe, ich bringe Sie hin.
Direkt hinter dem Pfarrer schreite ich also Richtung Altar. Somit habe ich einen unfreiwilligen Auftritt in meiner neuen Heimatgemeinde. Jetzt kommt der Spinner mit den Lackschuhen, denke ich, denken die. Als ich sitze, bringt die Orgel die Luft zum Beben.
Choral statt AirPods
Heute halten wir das, was aus sehr kleinen Lautsprechern an unser Ohr dringt, für Musik. Hier ist man wirklich ganz mit der Musik beschäftigt, sodass man sie nicht ignorieren kann. Mir fließen schon mit dem ersten Akkord die Tränen. Denn so wie der Biber hier die Bäume umlegt, nagt mir gerade der Blues am Gemüt. Nun, im Soundbad des Choralvorspiels, steigt Leichtigkeit in mir auf und vertreibt die Finsternis aus meiner Seele. Mit ein paar hundert Fremden das Gleiche zu tun fühlt sich gut an.
Jesus stirbt in Paarreimen
Dann der Pastor. Liest die Jesusgeschichte in holprigen Stanzen mit erzwungenen Endreimen. Kurz frage ich mich, ob das Ganze eine Performance der Internethumoristen Luksan Wunder ist – die Rumpelverse des Geistlichen haben die fremdschämigen Vibes von Schwagerdichtkunst auf Landhochzeiten.
Am Anfang war das Wort, Gott sei dank nicht dieses! – frevelt es in mir angesichts des lyrischen Offenbarungseids am Altar. Ob der Gottesmann diesen Quatsch selbst gereimt hat, denke ich – und büße sogleich: Warum bin ich so gehässig? Gerade eben flossen noch Erlösungstränen angesichts der Orgelwucht, jetzt krächzt der Zyniker in mir. Kann ich mich nicht erfreuen an den gutgemeinten Dichtversuchen eines liebevollen Hirten, der für seine Schäfchen nur das Beste will? Nein, die innere Heidi Klum ist der Meinung: Auf der Bühne musst du top sein, auch im Holy-Ghost-Bizness.
Nächstenliebe mit Teilnahmebedingungen
Plötzlich macht uns der Mann mit dem Segen Vorwürfe: Heute, ja heute, an Heiligabend sei das Haus voll. Manche Gemeindemitglieder, mahnt er, kämen nicht mehr zur Liturgie, aus Rücksicht, weil die neue Partnerin, der neue Partner, eben nicht christlich seien. Aber: „Rücksichtnahme ist keine Einbahnstraße“ schallt es durch die Krypta. Jetzt lass aber mal die Kirche im Dorf, denke ich –
ist dieser Erziehungsversuch nicht das Gegenteil von jesusmäßiger Toleranz, frage ich mich? Ich muss an Helge Schneiders Weihnachtshörspiel denken, in dem der Kleriker kleinbürgerliche Bosheiten bis in die hinteren Reihen des Gotteshauses ruft: „Wer hier nichts zu suchen hat, kann gerne gehen. Das ist hier keine Wärmehalle!“
Vorschlag an die Rückwärtsavantgarde
Passend zur pateralen Maßregelung spricht der Pfarrer von Kindern, die wachsen und Anspruch auf Mitgestaltung äußern, später auf Eigenständigkeit. Mit den Kindern, so der Pastor, ist es wie mit der Politik. Wir wollen mitbestimmen und das Leben nach unseren Wünschen gestalten. Er sei froh, in einer Demokratie zu leben, in der man fast alles sagen könne. Auch wenn manche Leute gerade behaupten, dass man eben nicht mehr alles sagen kann. Wenn diese Leute an der Macht sind, zählt aber nur noch deren Meinung, erklärt er. In Berlin kostet so ein Satz nichts, aber hier muss man mit Widerstand rechnen: Fast drei Viertel der Leute hier finden, dass die besten Ideen für unser Land an einem Stammtisch mit Fraktionsstatus entwickelt werden.
Ob die drei Viertel das Wort des Geistlichen in ihren Herzen bewegen und sich christlicher Werte besinnen?
Erlösung mit Ostwind
Ich scanne die Reihen. Hat der Traditionsverein mit Zukunftsangst hier schon das Gesangbuch in der Hand? Vereinzelt knallfarbige Strähnen im Damenhaar, schnittige HJ-Frisuren bei einigen Herren. Ansonsten sehe ich ernstere Gesichtszüge als zum Beispiel im Rheinland, aber das kommt wohl vom harten Ostwind. Dann wird es rührend: O du Fröhliche. Was für ein tolles Lied, denke ich. Zurecht ein großer Hit. Ich weine. Gemeinschaft. Großer Raum. Echter Klang. Der Blues ist over. Es ist doch ganz einfach, denke ich. Alle in einen Raum, schönes Licht, Orgel an, singen. Spätestens beim gemeinsamen Singen sollte jedem klar werden, dass niemand eine beleidigte Mehrheit braucht, die das Abendland an der Gegenwart hindert.
Jetzt ist Weihnachten vorbei und ich lasse den lieben Gott wieder einen guten Mann sein. Er hat hier wichtigere Aufgaben, als sich um mich zu kümmern. Rücksichtnahme ist schließlich keine Einbahnstraße.
Aus der Kajüte der Erkenntnis:
I. Gemeinschaft beginnt dort, wo man sich fremd fühlt.
II. Der Blues verschwindet schneller, wenn man ihn nicht alleine hört.
III. Der Wunsch nach Mitbestimmung endet, wo sich andere einmischen.
Liste der neu erfundenen Wörter im 221. Sonntagskind:
Spontanbekehrung, Rumpelvers, Schwagerdichtkunst, Rückwärtsavantgarde, pateral.
Keine Weihnachtskolumne ohne Beichtstuhl:
Ich bin Mark Scheibe, der freundliche Snob, der mit seinem Steinway-Flügel auf einem Hausboot lebt – ignorierter Künstler von Weltrang. Ein Geheimtipp bin ich als Opernkomponist und Jazzsänger. Auch als Schlagertexter, Astrologe und Marathonläufer halte ich mich aus Anstandsgründen dem Glitzerlicht der öffentlichen Bewunderung fern. Mit meiner wöchentlichen Kolumne „Sonntagskind” versuche ich mich vor dem natürlichen Andrang auf mein stetig wachsendes literarisches Oeuvre zu verstecken.
Geliebte Sonntagskindgeneigte,
ich habe für Euch die topsichere Anleitung zum Gelingen der Neujahrsvorsätze von der Paywall befreit. Mit dem Wunsch für ein bluesfreies, mindestens heiliges Silvester, bitteschön. Bis nächstes Jahr
Euer
Gute Vorsätze
Ende des Jahres packt mich immer diese euphorische Aufbruchsstimmung. Zwischen den Jahren ist auf einmal Zeit, auszuschlafen. Man kann dem Champagner schon vormittags eine Chance geben, ohne sich wie im freien Fall in Richtung Gosse zu fühlen. Dann, im Rausch der Leichtigkeit des Lebens, will man mehr, der innere Führer kommt in Gestaltungslaune. Allmac…








