Schon oft bin ich in den Genuss staatlicher Kulturförderung gekommen. Trotzdem bin ich sozial schwach: Der schönen Kellnerin entlocke ich mit einem übertriebenen Trinkgeld ein Lächeln, für den zahnlosen Obdachlosen habe ich nur noch 50 Cent übrig. Sozial schwach ist auch der Hausbesitzer, der die Miete verdoppelt, weil er es kann. Sozial schwach ist die Millionärin, die ihren Toyboyfriend mit Geld gefügig macht. Sozial schwach finde ich den Berliner Bürgermeister, der Radwege zurückbaut, um Parkplätze zu gewinnen. Auch der kriminelle Pseudounternehmer, der mit Barbershops Millionen aus Menschenhandel wäscht, ist sozial schwach. Genau wie der Typ, der mit meiner Freundin Marina eine heimliche Liebschaft unterhält und sich aus der Affäre zieht, als sie im Krankenhaus liegt.
Ich mache seit vielen Jahren Musik mit Menschen in Bremens Stadtteil Osterholz-Tenever: eine Gegend, die man „sozialer Brennpunkt” nennt. Solche Verallgemeinerungen erleichtern die Ordnung der Gedanken: Problembezirk, Reichengegend, Villenviertel, Ghetto – die Wörter malen sofort bunte Bilder. Ich versuche, darauf zu achten, dass sie nicht meine eigenen Beobachtungen ersetzen: Ich treffe in Tenever Leute, die sich keinen 6-Euro-Cappucino in der Innenstadt leisten können. Langzeitarbeitslose, die keinen Fuß mehr in irgendeine Tür auf dem Arbeitsmarkt kriegen. Frühinvalidinnen, die zu oft Pech hatten im Leben und von der Stütze leben. Auch depressive Säufer, vereinsamte TV-Junkies und von Melancholie niedergeschlagene Witwen. Und lebenskluge Mütter, ehrgeizige Sportler, dem Leben zugewandte Einwanderer, verbindliche Ehrenleute. Einige mag ich mehr, andere weniger, es gibt bestimmt auch ein paar psychopathische Bekloppte. Wie überall. Worin sich die meisten Leute in Tenever gleichen: sie haben wenig Geld. Sie sind aber damit nicht automatisch sozial schwach. Sie sind wirtschaftlich schwach.
In meiner Zeit als Barpianist in Grand Hotels habe ich gelernt, dass Reichtum nicht automatisch Anstand bedeutet. So bedeutet Armut auch nicht zwangsläufig soziale Schwäche.
Nun aber weg von der schmutzigen Realität, hin zu etwas wirklich Wichtigem: Theater! Zumindest finden wir Theaterleute, dass Theater wichtig ist, auch wenn noch weniger Deutsche ins Theater gehen als zur Wahl, nämlich 10%. Gerade rufen wir den kulturellen Untergang aus, weil die Mittel für staatliche Förderung der Künste reduziert werden. Ich weiß nicht, ob es bei mir die Lust an der Apokalypse ist oder ob es einen anderen Grund gibt: irgendetwas gefällt mir daran, dass uns der Hahn ein bisschen zugedreht wird.
So sehr ich meiner Branche unendliche Mittel gönne, denke ich manchmal, dass eine Steigerung der künstlerischen Qualität auch unabhängig von enormer finanzieller Förderung möglich sein müsste – vielleicht könnte man dann von den theaterfernen 90% welche ins Parkett locken.
Ich stelle selbst immer wieder Anträge auf staatliche Förderung von Projekten, mal mit Erfolg, mal ohne. Klar wurde mir beim Lernen der nötigen Antragsprosa: wenn ich nicht belegen kann, dass mein Vorhaben nicht nur künstlerisch, sondern auch gesellschaftspolitisch relevant ist, brauche ich es gar nicht erst einzureichen. Und die Einstufung dieser Relevanz unterliegt dem Zeitgeist.
„In der Kunst gilt das Recht des Besseren“
(Claus Peymann)
Wenn dein Projekt also einen identitätspolitischen Diskurs aufmacht, hast du ein gutes Blatt in der Hand beim Förderungspoker. Setzt du dich kritisch mit Kolonialismus auseinander, ist das schon ein Royal Flush, da kannst du bluffen. Gelingt es dir, einen anti-imperialistischen Feminismusbegriff vor dem Hintergrund zunehmender Islamophobie zu manifestieren, kannst du locker All In gehen und ein Full House auf den Tisch knallen. Aber wehe, in deinem Team coworked nicht wenigstens eine bipolare Transfrau oder ein nonbinärer LGBTQ+-Protagonist1 aus Afghanistan, dann hast du nämlich schlechte Karten.
Ein Ass im Ärmel hast du, wenn dir ein Konzeptbegriff wie "hybride Kommunikation” für dein Projekt einfällt oder “postmanipulatives Reenactment der kollektiven Utopie”. Du musst dann nur noch belegen, dass du mit deinen Kokreateur:innen die Grenzen zwischen hochkulturigem Gesinnungsbashing und dem populärfolkloristischen Performancetabu einreißt, um die Distanz zu den Personen einer Race, Class und Gender übergreifenden Publikumsstruktur weiter zu vertiefen. Schließlich geht es darum, Intersektionalität erfahrbar zu machen und das durch Verzicht auf die Darstellung emotionaler Inhalte in seinen dramatischen Erwartungen irritierte Publikum einer barrierefreien Mehrfachdiskriminierung auszusetzen.
Da kann man schon mal sozial schwach werden.
Neu erfundene Wörter im 155. Sonntagskind: Toyboyfriend, Frühinvalidin, Förderungspoker, Gesinnungsbashing, Performancetabu.
Private Subvention ist hier ohne Antragsprüfung möglich: frühstücksliterarisches Qualitätsbemühen wird ebenso wie wöchentliche Lieferung zugesagt.
Hier ist ein Gespräch über staatliche Kulturförderung auf Deutschlandfunk.
Verwandt zu diesem Sonntagskind: im Januar habe ich die großartige Angela Winkler in der Schaubühne gesehen – und das kam dabei heraus:
LGBTQ+: was heißt das eigentlich? Wieder einmal weiß es die BRAVO.
Moin Mark, so genial wie du sozial schwach und wirtschaftlich schwach herausarbeitest. Ja Lindner und die fdp sind sehr sozislschwach, wenn nicht sogar dissozial.
Dein Projekt in Osterholz mit Christel verdient meinen ganzen Respekt und ist sehr förderwürdig, um den Bogen zu spannen. Eine schöne Woche wünsche ich dir.
Ps: Ich habe dich auf meine Gästeliste von der böcklerstiftung geschrieben ( die Einladung müsstest du haben) und würde mich sehr freuen, dich am 11.10. zu sehen. Gruß Ute
Unterschreibe die ausgearbeiteten Richtlinien. Für mich und für andere. Publikumsbeliebung ohne Anbiederung!