„Ich hab Dir doch schon in unserer allerersten Nacht gesagt, dass ich Dich liebe. Kannst Du Dir nicht EINMAL was merken? Ich geh doch auch nicht ins Büro und rufe jeden Morgen rein: ‚Ich arbeite hier!‘“
Wir müssen reden, liebe Leserin, lieber Leser. Denn wir haben hier was am Laufen. Eine parasoziale Beziehung, sagen Fachleute. Ihr beschäftigt mich. Manchmal werde ich von Euch beschenkt: Durch Empfehlungen unter Freunden, mit begeisterten Posts auf Facebook, durch Spenden und Komplimente im Mail-Postfach. Das tut gut. Manchmal hat das eine so erhebende Wirkung, dass ich den Rest des Tags lächle und mit meiner Bestlaune die ganze Welt um mich herum anstecke. Dann fühle ich mich darin bestätigt, dass der ganze Quatsch hier einen Sinn hat und mache auch nach dem 183. Sonntagskind weiter. Danke – und nun viel Freude beim Lesen!
„Und nun, hopp! Ab zum Milchmann.” Als 5-Jähriger schickte mich meine Oma morgens los, mit einer großen, emaillierten Kanne. Im Laden füllte der Milchmann, ein Herr in einem weißen Kittel wie ein Arzt, die Milch aus einem riesigen Behälter in meine mitgebrachte Kanne. Manchmal traute ich mich, auf dem Nachhauseweg mit der vollen Kanne hin und her zu schaukeln, bis der Schwung so heftig war, dass ich die Kanne überkopf schleuderte. Ich finde heute noch faszinierend, dass weder der Deckel runterfiel noch Milch dabei verloren ging – damals fühlte ich mich wie ein Künstler, der der Erwachsenenwelt einen Zauber abluchst, den sie nicht freiwillig hergeben würde.
Zum Glück wurde ich nicht durch Kritik davon abgehalten. So konnte ich mein nutzloses Milchkannenschleudern zu einem Lebensmodell erweitern, und höchstens nimmt daran jemand mal online Anstoß und empört sich auf sozial-medial.
Früher wurde so etwas im Fernsehen geregelt: Da hat der legendäre Literaturfanatiker Marcel Reich-Ranicki Romane in Grund und Boden gegeifert. Es muss für Betroffene schrecklich gewesen sein, zu erleben, wie der päpstlich verehrte Kritiker das eigene Werk vernichtet, mit einem Todessatz wie „Wertlos von der ersten bis zur letzten Zeile!” oder einem verächtlich hingespuckten „Ein erbärmliches Buch. Es ist beleidigend, so etwas lesen zu müssen.”
Zur Erinnerung an Deutschlands unterhaltsamsten Kulturparasiten, der durch seine performativen Erniedrigungen selbst zum Künstler wurde, hier dieses Best-of-Verriss-Video:
Unvorstellbar für unsere heutige Zeit, oder? Für alle, die sich nach degradierender Kritik am eigenen geschriebenen Wort sehnen, hat Anne-Kathrin Gerstlauer von TextHacks einen digitalen Reich-Ranicki-Nachfolger gebaut, den BlaBla-Score. Ich habe meine letzte Sonntagskindkolumne dem virtuellen Kritiker zum Fraß hingeworfen, das ist sein Ergebnis:
Wer selbst einen Text hat und mutig ist: Rein damit! Hier geht’s zum gnadenlosen Online-Rezensenten, der den BlaBla-Score misst:
Man ist nirgendwo sicher vor dem scharfen Beil der Kritik – perfide, wenn es sich in der Zuckerwatte eines Kompliments versteckt:
Einmal sang ich auf einer Wirtschaftsgala am Flügel Jazz-Songs zur Unterhaltung. Ein Herr sagte: „Sie klingen ja wie Udo Jürgens!“ – „Danke, das ist ein tolles Kompliment!“, meinte ich halbehrlich – denn eigentlich möchte ich lieber klingen wie niemand sonst. Der Gast legte nach: „Aber Udo Jürgens war besser.“ Wie soll man sich solchem Charme entziehen? Und: Hauptsache man ist im Gespräch – wen kümmern da Vergleiche? Am Skurrilsten klang der gemischte Chor profunder Rezensions-Stimmen, nachdem ich mal für ein Theaterstück Musik komponiert und mit eigenem Orchester auf die Bühne gebracht habe. Wie herrlich subjektiv doch die unumstößliche Wahrheit ist:
Die Süddeutsche Zeitung fand „ein kleines Orchester" vor, der Spiegel sah „ein großes Orchester“.
Ist es nicht überraschend, dass Repräsentanten der wichtigsten Feuilletons dieses Landes in der Frage, ob ein Orchester klein oder groß ist, verschiedener Meinung sein können? Die Berliner Morgenpost schummelte sich an der Frage vorbei: „Ein hervorragendes Orchester" spielt Mark Scheibes unheilvolle Kompositionen (FAZ), die „komplex" (Frankfurter Rundschau), „bedrohlich anschwellend” oder nach „Wagner-Bombast” (Deutschlandfunk) klingen bzw. nach „Hanns Eisler und Hans Zimmer” (MOZ) oder wie „Schönberg” (taz), „Schostakowitsch” (Süddeutsche Zeitung) oder „nach Stummfilm-Ära.” (Nachtkritik)
Ich hätte dem taktlosen Gala-Charmeur zurufen sollen: „Nein, mein Lieber – nicht wie Udo Jürgens! Ich klinge komplex und bedrohlich anschwellend, wie Schönberg und Hans Zimmer, Sie kulturloser Kretin!“
Ich treffe auf der Straße eine Freundin, die sich gerade von ihrem Partner getrennt hat. Nun feiert sie die neuen Möglichkeiten ihres von Verpflichtungen befreiten Status. Es tut gut, zu sehen, dass sie sich einen raubtierhaften Ausbruch in ein neues Leben gestattet – nach so langer Zeit in einer „ordentlichen”, aber erstarrten Beziehung.
Mit leuchtenden Augen berichtet sie von versauten Tinderdates, durchgeknallten Orgien und ihrer ersten Bondage-Experience. Der aktuelle Liebhaber muss keine Angst vor ihrer Kritik haben: „Der Acker wird ordentlich gepflügt”, freut sie sich pragmatisch. Dann beugt sie sich vor und zischt: „Wenn ich einen Liter Milch brauche, muss ich ja nicht gleich ne ganze Kuh kaufen.“ – Sollte Euch gerade der Café au lait in den Händen überschwappen, wünsche ich Euch, dass Ihr auch ohne viehwirtschaftliche Metaphern ein von Erstarrungen freies Leben führt. Habt einen herrlichen Sonntag!
Holt Euch einen Liter Milch, wenn Euch danach ist. Jeden Sonntag gibt es die frei Haus. Die Kuh steht nicht zum Verkauf. Wer trotzdem dem Milchmann eine Freude machen will, wirft Geld in die Kasse:
Kennst du hypersensible Künstler, die immer sofort beleidigt sind? Oder scharfzüngige Schlaumeierinnen, die über alles und jeden richten? Mach ihnen eine Freude – mit dieser Kolumne. Ein Klick aufs Herz oder das Restack-Zeichen ist hier gern gesehen, das hilft der Sichtbarkeit dieses Texts. Wenn du der Meinung bist, dass diese Kolumne nicht der Rede wert ist, freue ich mich über einen kritischen Kommentar. Hier ein paar Beispiele: „Wenig geistreicher Text zu einem langweiligen Thema.” / „Eitles Geschriebe eines erfolglosen Komponisten, der sich damit wichtig tut, dass die Zeitungen mal aus Versehen über ihn geschrieben haben.” / „Unsensibler Beitrag zu einem viel zu wichtigen Thema”
Zur Erinnerung an die neu gestellte Uhr, die seit gestern Nacht gültig ist: Hier meine Erklärung, wie das funktioniert mit der Sommerzeit, von 2004:
Respekt! Aber auch mein score ist nicht so übel -- und mit Kafka drin -- und blabla score ruft nach noch mehr Fütterung ;-) :
👉 Bla-Bla-Score: 37%
👉 Kategorie: Existenzialistischer Weltschmerz mit Hang zum Drama
Markierter Text:
❌ „den Himmel gesehen, die Hölle erfahren“ → Standardmetaphern für „viel erlebt“, aber was genau? Mehr Substanz wäre schön.
🌀 „unmögliche vierzig Jahre leben“ → Überdramatisiert. So schlimm kann’s doch nicht sein?
🤔 „das Schicksal wäre so nett“ → Schicksal als Kumpel dargestellt – netter Versuch, aber ziemlich pathetisch.
🚀 „die so prall und saftig wurden, dass sie den ganzen Baum umrissen“ → Obstmetapher für wirtschaftlichen Erfolg – poetisch, aber auch verschwurbelt.
📢 „Ich war dieser Sessel“ → Großes Finale im Kafka-Modus. Nett, aber ein bisschen dick aufgetragen.
🎤 Kommentar:
„Das ist keine Bewerbungsgeschichte, das ist ein existentialistischer Fiebertraum! Zwischen Selbstmitleid, Kapitalismuskritik und dramatischen Metaphern verliert sich der Protagonist in seinem Weltschmerz – und der Leser sich irgendwann im Satzbau. Aber hey, wenigstens war kein „out of the box“-Denken dabei! Soll ich weitere Blabla-Stellen sezieren?“