Neulich fand ich in einem Secondhandshop eine sehr aufregende Lacklederhandtasche. Genau das richtige Teil für Annabella, rief mein innerer Geschenke-Admiral. Annabella (Name v. d. Red. geändert) fand die sexy Handbag allerdings längst nicht so scharf, wie ich dachte – und wies sie zurück.
Das portable Drama
Nun gut, dachte der Schenk-Schlawiner in mir, mal sehen, wie Madame C. das gute Stück findet, sie ist ständig an neuen Handtaschen interessiert. Madame C. (Name d. Redaktion bekannt) war das piece too shiny. Ich verstand. Als Präsent-Pionier, der ich bin, machte ich mich mit dem glänzenden Hingucker auf den Weg zu meiner Tochter, die schließlich einen angeborenen Glitzerfaible und eine Schwäche für schimmernde Accessoires hat. Sie hielt das mittlerweile zu einem portablen Drama aufgeladene Schulterbehältnis in ihren Händen und durchschaute mich an: „Lass mich raten,“ finsterte es unter ihren prächtigen Zauberinnen-Augenbrauen, „Deinen beiden Ladies passt die Tasche nicht und jetzt willst Du sie bei mir loswerden. Tut mir leid, Papi. Eine Birkin Bag gern, aber nicht dieser pornös schimmernde Boomer-Tantentank.“
Mein Schatten kehrt zurück
Der innere Mitbringsel-Minister muss zurücktreten, das war jetzt klar. Geknickt schlurfte ich mit dem belasteten Behältnis von dannen. Trist fristete die schwarz reflektierende Big-Pochette mit dem lästigen Luxusvibe fortan ein Schattendasein in der finstersten Ecke – bis ich kürzlich verstand: Auf dem Weg zu einer Sonntagskindlesung, bei der ich auch ein paar Songs singen sollte, fand ich es geschickt, Schallplatten dabei zu haben. Aber im blauen Smoking einen Stoffbeutel von Dussmann durch Charlottenburg tragen? Diese Chuzpe hätte noch nicht mal der entlassene Souvenir-Senator aufgebracht.
Plötzlich hörte ich ein leises Wimmern:
„Du Idiot! Seit Monaten versuchst Du mich loszuwerden. Warum? Trottel! Ich gehöre zu Dir!“
Die Tasche mit dem Glanz hatte ja so recht! Flugs befreite ich sie vom Staub der Zurückweisung, befüllte sie mit den Veuve-Clicquot-farbenen Champagner-für-alle-Schallplatten1 und machte mich auf den Weg über den Stuttgarter Platz zum Foyer vom Klick-Kino. Im sensationsverwöhnten und genderfluiden Berlin hat ein Mann mit Damenhandtasche keinen Anspruch auf besondere Aufmerksamkeit.
Fremd im Smokinghemd
In meinem neuen Zuhause ist das ein bisschen anders. Hier in Ueckermünde, wo mein Hausboot liegt, verlangen mir skeptische Blicke und ratlose Mienen äußerste Konzentration ab, um auf dem Weg der Lebenskunst nicht zu stolpern und in den giftigen Strom der Ablehnung zu stürzen. Wenn ich über diejenigen klage, die mir zeigen, wie fremd ich ihnen bin, tue ich es ihnen gleich – und irgendwann gibt es Krieg. Also knipse ich die Lampen hinter den Augen an, bevor ich auf die Straße gehe, setze das glücklichste Lächeln auf, zu dem ich in der Lage bin und sende: „Ich bin verliebt in das Leben – und in meine geile Lacklederhandtasche!“ Der Trick funktioniert häufiger als dass er nicht klappt. Ich komme mit Leuten ins Gespräch: Mit einem kleinen Wortwechsel versichern wir uns alle, dass wir keine Außerirdischen sind.
Hafenmeister-Glamour
Es ist viel davon die Rede, wie wichtig eine inspirierende Umgebung ist. Ist es in Berlin eine Kunst, inspiriert zu sein? Du sitzt in einem beliebigen Café und entdeckst ein paar Tische weiter Lars Eidinger / Brian Cranston / Suzie Collier, keiner macht sich was draus – und der Promiglow schwappt über und ist irgendwie auch dein Privat-Fame. In Ueckermünde lerne ich den 60-jährigen Hafenmeister Ingo kennen, der mir beim Tee auf meiner Bugterrasse von seinem Lebensweg durch zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme erzählt – und vorlebt, wie er in dem Wahnsinn stabil bleibt, ohne starr zu werden.
Dieses souveräne Zwischen-den-Welten-Wandeln trage ich in meiner Tasche weiter – in einem stillen Moment beim Sonnenuntergang flüstert sie mir zu: „Du gehörst genau hierhin – und zwar überall.“
I. Glanz ist keine Frage des Materials, sondern der Haltung.
II. Ablehnung ist nur eine Einladung zur Schärfung des eigenen Profils.
III. Wer im Hafen der Gelassenheit anlegen will, braucht ein gutes Navigationslächeln.
IV. Je unpassender das Accessoire, desto größer die Chance auf ein gutes Gespräch.
V. Berlin glänzt von außen, Ueckermünde von innen.
VI. Wer immer nur in Großstädten inspiriert ist, hat noch nie einen Hafenmeister kennengelernt.
VII. Modemut ist die Bereitschaft, missverstanden zu werden.
VIII. Lebenskunst ist, auch in skeptischen Blicken zu baden. Irgendwann verändern sie sich.
IX. Freundlichkeit ist das günstigste Statussymbol.
Welche Tasche würdest Du niemals tragen?
Unterstützen Sie dieses Sonntagskind, damit der Glanz nicht ausgeht!
Empfohlene Ergänzungslektüre:
Von Brettern, die nerven und Planken, die tragen
Damen und Herren, verehrte Freundinnen und Freunde,
Es fährt ein Truck nach Nirgendwo
Es fährt ein Truck nach Nirgendwo. Okay, ich gebe zu, es ist kein Truck, es ist ein Transporter. Aber der ist bis unter die Decke vollgepackt mit Zeug.
What the fuck ist eigentlich Stil?
Verehrte Lesende, geliebte Sonntagskindler und -innen, betörend stilerfüllte Menschen, die Ihr mir jeden Sonntag Euer Mailpostfach anvertraut,
PS: Die Lesung und das Konzert im Foyer des Klick-Kino: Die Grand Dame des Charlottenburger Salons, Heidemarie Wiesner, hatte mich eingeladen, einen musikalisch-literarischen Nachmittag mit ihr gemeinsam zu gestalten. Wir haben gemeinsam Sonntagskind-Kolumnen vorgelesen und Songs am Flügel gespielt – für ein wunderbar mitsingfrohes und tiefschürfendes Publikum. Die vorherige Probe in Heidemaries West-Berliner Wohnung hat mir gezeigt, wie schön sich ein Leben im Wohnstil ausdrücken kann: Wenn Mut zur Abwechslung, zum Kontrast, zur Dissonanz eingebettet in eine große stilistische Umarmung sichtbar werden. Heidemarie erlaubt uns einen Blick in ihren reichlich ausgestatteten Stadtpalast:
PPS:
Ich habe die große Sonntagskindumfrage immer noch nicht ausgewertet – das werde ich bald tun, und freue mich schon sehr auf einen Einblick in Euren Blick auf diese wöchentliche Kolumne. Wer mag, kann noch teilnehmen.
Wer kennt sie nicht, die legendäre Schallplatte vom Autor selbst – mit einem durchdachten, dialektischen Marketingcoup an der Allgemeinheit vorbeiveröffentlicht, bleibt das Album „Champagner für alle” so unbekannt, dass es selbst für einen Geheimtipp zu exklusiv ist. Das Produkt verfügt über eine dermaßene Arroganz, dass es einfach keinen Wert darauf legt, verkauft zu werden – genial! Eine tiefschürfende Ballade wie „Blaue Stunde” oder der fröhlich swingende Paartherapiesong „Fremdgehen” haben es einfach nicht nötig, gehört zu werden.
Moin Mark, einfach genial. Hat mir soviel Freude gemacht. Wenn nicht ückermünde nicht so weit weg wäre, würde ich dich gerne auf Café oder Ähnliches besuchen, aber so bist du vor mir sicher. Liebe Grüße Ute