Ein Plädoyer für diskrete Seitensprünge?
Ich liebe multipel: in Bremen mit Madame C., in Berlin mit Annabella. (Beide Namen von der Redaktion geändert) – Bevor es Urteile hagelt: Ich kenne einige Leute, Frauen wie Männer, die das auch tun, die meisten von ihnen leben eine Zweitbeziehung im Schattenreich. Ob ihre Hauptpartner es ahnen oder wissen, bleibt dabei ein Geheimnis, man spricht nicht darüber. Zu Beginn meiner offen gelebten Polyamorie war ich überzeugt, mit meiner Transparenz auf der moralisch richtigen Seite zu lieben. Die Heimlichtuerei der anderen hielt ich für unterlegen. Heute weiß ich: Leute haben gute Gründe, Dinge für sich zu behalten, denn Offenheit hat auch ihren Preis.
Vier Augen – eine Liebe
Das Halbdunkel der Ahnung, die Aura von Geheimnis schafft eine Atmosphäre, die im nüchternen Licht der Aufgeklärtheit mühsam wieder hergezaubert werden muss. Noch eine andere Nebenwirkung scheint das offizielle Doppelleben zu haben: Ich war beim Augenarzt, weil ich seit einiger Zeit Doppelbilder sehe. Mit mehreren Liebesbeziehungen entstehen offensichtlich mehrere Foki, sollte das der korrekte Plural von Fokus sein.
Warnung: Beziehungsstatus könnte Ihre Sehfähigkeit beeinträchtigen
Wenn wir weiterhin so sorglos mit unseren Daten umgehen, übermitteln unsere Smartphones bald an die Gesundheitsämter, wenn Ortungsauswertungen abwechselnde Übernachtungen an verschiedenen Adressen den Verdacht auf mehrere Liebespartner erhärten. Ein offizieller Warnhinweis sollte dann auf dem Display erscheinen: „Die personelle Überausstattung des Liebeslebens kann zu einer verzerrten Optik führen.“
Liebesfokus, doppelt klar: Sonntagskind ist immer wahr!
Historische Stätte weiterhin in revolutionärer Nutzung
Mit Annabella bewohne ich eine legendäre Berliner Bude: Hier in West-Berlin, in Charlottenburg am Stuttgarter Platz, hat die berüchtigte Kommune I im Jahr 1967 herumgelungert. Das Zimmer, in dem mein Flügel steht, diente der ersten deutschen Wohngemeinschaft um die bundesweit bekannten Tagediebe und Gesellschaftsvisionäre Rainer Langhans und Fritz Teufel als Kulisse für jenes Foto, das im Stern seinerzeit um die Welt ging:

Liebe im Ausnahmezustand
Die Schauspielerin Annabella und mich trennen einige Jahre. Die gemeinsame Zeit zu einem Fest zu machen, ist ein Anspruch, der uns verbindet. Joachim Meyerhoff nennt diesen Status in einem seiner tollen Romane Zelebrierzwang – das trifft es. Wir können nicht aneinander vorbeigehen, ohne zu erwarten, dass Champagnerkorken knallen. Das ist natürlich schwierig, wenn man sich gerade zwischen zwei Onlinecastings und kurz vor der Abgabe eines längst fälligen Orchesterarrangements auf dem Weg zum Klo auf dem Flur trifft.
Kommune Meins: Einzelkinder schaffen versehentlich den Sozialismus ab
Annabella und ich sind Einzelkinder. Durch das Ausbleiben von geschwisterlichen Konkurrenzerfahrungen sind wir daran gewöhnt, 24/7 mit Liebe überhäuft zu werden. Das führt bei uns zu einer permanenten Bedürfnisrivalität und dem Wunsch, den jeweils anderen für die Erfüllung der eigenen Wünsche zu besitzen. Ironischerweise leben wir unsere geradezu kapitalistische Neigung dort aus, wo vor 58 Jahren der Satz „Eigentum ist Diebstahl“ galt. Aus der Kommune Eins wird bei Annabella und mir die „Kommune Meins“.
Was dein ist, ist auch mein – wenn du so denkst, unterstütze deine revolutionäre Zelle und das wöchentliche Sonntagskind-Flugblatt:
Café Crème und Klassenkampf
Die noch lebenden Ex-Kommunarden brauchen aber nicht zu fürchten, dass ihr ideologisches Engagement vollends auf der Achse des Habenwollens verpufft. Das Klima des Diskurses lässt sich aus diesen Wänden nicht vertreiben – Annabella und mich erschüttern unignorierbare weltanschauliche Turbulenzen. Schnell schaukelt sich ein harmloses Frühstücksgespräch hoch. Da sitzen wir ganz herkömmlich in Negligé und Seidenpyjama an dem Bauhaus-Mahagoni-Esstisch, Mango aus Indien, Ananas von der Insel Reunion und das vegane Rührei eines Startups aus dem Prenzlauer Berg statten unsere Tafel aus, fair produzierte Keramikschalen umfließen den mit einer italienischen Siebträgermaschine produzierten Café Crème, und wir plaudern ganz leichtgängig über das Für und Wider des Drogenhandels vor unserer Haustür. Plötzlich fällt eine falsche Vokabel, ein Wort mit zu hohem Gesinnungsanteil, ein falscher Blick dabei – und schon wird aus dem geschmeidigen Smalltalk über ein Allerweltsthema eine politische Grundsatzdiskussion.
Bircher Müsli auf den Barrikaden
Die Stimmung kippt binnen Sekunden und ein rechtskonservativer Neoliberalist ringt mit einer ultralinken Feminismus-Aktivistin um die Deutungshoheit der Welt. Daran, dass die beiden Opponenten eigentlich Liebende sind, können sie sich nicht erinnern und gönnen sich nicht die teure Fassbutter von Goldhahn & Sampson1 auf dem importierten Landbrot. Es ist immer wieder eine Tragödie.
Luxusproblem Kommune – Wer bietet mehr für eine Wohnung mit Vorgeschichte?
In einem lichten Moment schafften wir zu verhandeln: Wir haben beschlossen, die Kommune zu räumen, um Leuten Platz zu machen, die zum Zusammenwohnen wirklich geeignet sind. Denn das kann man hier sehr gut. Sogar mit mehreren. Vielleicht kann sich ja ein Paar, das sich weltanschaulich einig ist, vorstellen, zwei schöne Einzelwohnungen gegen eine legendäre, große Wohnung zu tauschen. Dann könnte man ins Gespräch kommen, gerne auch heimlich:
Wer sich noch mehr über Annabellas und meine Abenteuer informieren will, liest – Annabella ist eine stetige Quelle der Inspiration mit einer eigenen Annabella-Rubrik im Sonntagskind:
Kennst du Heimlichtuer, Hasardeure, Fremdgeher, die „Ja, ich schwöre”- Chöre hauchen, weil sie viel mehr Liebe brauchen? Sie brauchen sich nicht zu verbiegen, lass sie Sonntagskinder kriegen!
Letzte Woche hatte ich die Freude, auf Instagram von der Gruppe ourgenerationz eingeladen, ein Interview zu geben. Vielleicht hat ja jemand Lust, zu schauen:
Dank:
Dies ist die 179. Sonntagskindkolumne. Die Schreiberei ist ein Haufen Arbeit: Bis mittags schlafen, Champagnerfrühstück, Klagen über ausbleibende Kulturförderung und den eigenen Misserfolg mit der Ignoranz der anderen und der Weltlage rechtfertigen. Dann mit leichtem Rausch vom Schaffen großer Werke träumen und erschöpft ins Kissen sinken.
Aber ganz im Ernst: Damit es leicht klingt, so als hätte es ein von dauererregten Musen wundgeküsster Weltenbalancierer zwischen zwei Cocktails ins Diktaphon genuschelt und dann abtippen lassen, muss ich mehrere Stunden … ich will nicht sagen, schuften, aber es passiert auch nicht von alleine.
Ich würde es nicht machen, wenn ich nicht wüsste, dass ich dafür von Euch gemocht werde. Einige von Euch reden über Sonntagskind, und dann freue ich mich, wenn ein neuer Name in der Liste der Abonnements auftaucht.
Einige von Euch gehen sogar so weit, mir Geld zu geben. Das ist nicht nur ein phantastisches Gefühl spürbarer Wertschätzung, es hilft auch bei der Steuererklärung: Jede Sonntagskind-Einnahme macht es mir leichter, Ausgaben für Zeitungsabos, kostspielige Onlinekurse wie „Erfolg mit E-Mail-Newslettern – 1000 superteure, nutzlose Tricks” und Studienreisen als Betriebsausgaben geltend zu machen.
Danke für diese schöne Beziehung – ich bin dankbar und finde, wir alle machen das zusammen sehr gut. <3
Ein Nachtrag:
Manche Resonanzen auf die letzten Kolumnen waren bestürzter Natur: Es sei dem Ernst der Lage nicht angemessen, Witze zu machen, ohne sich politisch klar zu positionieren. Womit wahrscheinlich gemeint ist, sich zu einer Partei zu bekennen. Genau damit aber möchte ich Euch, verehrte Lesende, nicht kommen. Ich weiß sehr zu schätzen, in Eurem E-Mail-Postfach ein willkommener Absender zu sein. Dafür liefere ich einmal in der Woche unterhaltsame Frühstücksliteratur. Wer sie aufmerksam liest, wird keinen Zweifel an meinem Humanismus haben, an meinem Engagement für Gerechtigkeit und für Freiheit. Bei welcher Partei ich mein Kreuzchen mache, hat hier nichts zu suchen. Ein Wunsch, der zwischen den hoffentlich unterhaltsamen Zeilen lebt, ist gelegentlicher Erkenntnisgewinn durch eine ungewohnte Perspektive.
Der Zweifel, ob das eigene Tun angesichts der Weltlage angemessen ist, kommt immer wieder mal zu Besuch. Im Oktober 2022 war er schon mal ganz schön laut:
😂 Zelebrierungswahn — jetzt weiß ich endlich, was ich gegen den Alltag habe und weshalb ich schon immer skeptisch war, zusammen zu ziehen! Viel Glück euch beim Wohnungstausch 2 gegen 1 🍀🍀🍀
Mann, sowas von geil..so eine historisch unterfütterte Altbauwohnung..., Du hast es nach oben geschafft. Die Miete hat sich sicher verzehnfacht seit der K1.-----IM übrigen : All we need is love.....wäre doch sicher eine Bude für zB Iggy Pop, der hat ja auch mal Berlin geliebt.