Liebe Freundinnen und Freunde der kultivierten Frühstücksunterhaltung,
schlaue Füchse haben uns mit einem falschen Löwen einen Berliner Bären aufgebunden. Das sollte das Thema des 110. Sonntagskinds werden, aber gestern kam Tony Bennett dazwischen. Ich hatte vor ein paar Tagen beim Laufen am Lietzensee an den großen, lebensbejahenden Sänger gedacht, der in fast einem Jahrhundert eine 80-jährige Bühnenkarriere durchlebt hat. Dabei hat er immer wieder betont, dass er in seinem ganzen Leben keinen Tag gearbeitet hat.
Ich denke oft an Tony Bennett, er ist ein Vorbild für mich – mit seiner Entschlossenheit, zu berühren. Er hat die Freude über das Glück zu leben zu seiner Weltanschauung gemacht. Die andauernde Qualität seines Werks hat mich auf die Idee gebracht, meine beiden Städte Bremen und Berlin nach Orten abzusuchen, die auf eine innere Weise mit Tony Bennett verwandt sind. Ich wünsche viel Freude beim heutigen Sonntagsfrühstück. Wer Lust hat, hört danach die Musik von dem Mann, der 20 Grammys in seinem Apartment überm Central Park im Regal stehen hatte.
Bitte lest erst den Text und studiert danach die Fußnoten, sie sind eine Fundgrube für sich.
Topaktuelles Titeldesign mit Herrn Wiemer und seiner Frau. So würde ich heute Sonntagskind am liebsten ausliefern. In einem Kuvert mit einer Briefmarke mit Tony Bennett drauf.
Ein Tempel der Güte
Mit einem Plattenspieler aus den 1970er Jahren auf den Unterarmen trete ich die Souterrainstufen zur Hifi-Werkstatt Wiemer in Berlins Prenzlauer Berg hinunter. Die Tür bekomme ich gerade so auf, denn hier stapeln sich bis unter die Decke Kassettendecks, Röhrenradios, Verstärker und Tonbandgeräte. Den Geruch kenne ich aus meiner Kindheit, aus Geschäften mit unbezahlbaren Stereoanlagen.
Hinter einer vollgestellten Ladentheke steht eine Frau mit der Seriösität und Diskretion der Arzthelferin in einer Privatpraxis für delikate Angelegenheiten. Ich frage, ob der Plattenspieler repariert werden könne. „Oh. Da müssen Sie allerdings sehr lange warten.“ Sie deutet auf die vollen Regale: „Hier. Das muss Herr Wiemer alles noch erledigen.“ Sie schaut mich an und spricht auf diese Weise ohne Worte weiter. Ihre Sprache wirkt, ich bin von Ehrfurcht umrankt.
Elektromagnetischer Heiligenschein
Dann wendet sie sich doch erbarmungsvoll an mich. „Was geht denn nicht?“ fragt sie. Ich berichte von den Platten, die sich nicht mehr drehen und zeige ihr den herabhängenden Tonabnehmer. Allmählich verwandelt sich die strenge Schwellenhüterin in eine Gefährtin im Wettbewerb um die Gunst des Meisters: „Vielleicht kann Herr Wiemer ja mal einen Blick drauf werfen.“Da taucht er schon von weiter hinten aus seiner Werkstatt auf. Eine Ingenieurs-Aura umgibt ihn. Ich bin sicher, dass man sie mit einem elektronischen Gerät aus seiner Werkstatt messen kann.
„Ein Thorens 145!“, erkennt er von weitem. Er greift dem Gerät sofort unter die Haube, hebt den Teller ab und weiß Bescheid. Zum Glück folgt der Inspektion des Geräts eine einfache Diagnose. „Gehen Sie mal einen Kaffee trinken und kommen in einer Stunde wieder.“ Ich bin begeistert. Herr Wiemer und seine Frau ziehen mich mit ihrer Moral vom goldenen Handwerk und anständiger Meisterschaft ganz auf ihre Seite. Sie loben die Unverwüstlichkeit der alten Geräte und schütteln den Kopf über den kurzlebigen Elektroschrott der Gegenwart.1
Eine Weihestätte des Handwerks: Wiemer in der Oderberger Straße, Berlin
Slow fashion
In der Secondhandboutique Quasi Nuovo im Bremer Ostertor gibt es keine neuen Kleider. Keine Textilsünden wie sie von Primark und anderen Fast Fashion-Firmen verbrochen werden. Das kleine Schaufenster präsentiert alle paar Tage ein neu entdecktes altes Kleidungsobjekt auf Schneiderpuppe, ausgestellt wie eine Skulptur. Ladenbesitzerin Ires wählt mit dem Volltrefferblick einer Galeristin für zeitgenössische Objekte aus, was auf ihre Bügel darf. Eine Seidenbluse mit Umschlagmanschetten, der sonderbare Jumpsuit eines unbekannten Designers in Terracotta, eine Louis-Vuitton-Handtasche, die nicht prollig wirkt. Alles hier resoniert mit einem besonders guten Geschmack. Ich finde immer etwas Ausgefallenes für Annabella (Name v. d. Red. geändert) oder meine anspruchsvolle Tochter. Braucht man wirklich jedes Jahr über 100 Milliarden neue Kleidungsstücke? Ich staune über das Angebot bei Quasi Nuovo und denke: wer braucht neue Klamotten, es ist alles schon da!
Ires von Quasi Nuovo in der Wulwesstraße in Bremen mit ihrer Mitarbeiterin
Ein Kaufhaus ohne Verpackungsmüll
Das Antik-Center in der Suarezstraße in Berlin-Charlottenburg ist ein richtiges Kaufhaus, in dem es fast alles gibt: Schreibtische, Kleiderschränke, Stühle. Koffer, Hand- und Aktentaschen, Geschirr und Besteck, sogar ein paar Kleider und Anzüge. Auch Ölgemälde und Graphiken, Stehlampen und Manschettenknöpfe, Frauenschuhe, Schallplatten und ein paar besondere Bücher, meistens Bildbände. Alles ist von früher. Eine der freundlichen Damen im Laden zeigt mir eine Clutch aus den 1920er Jahren. Demonstriert den leichtgängigen Verschluss, der mit einem deutlichen mechanischen Schmatzen einrastet und sich mit einem lässigen Daumenschnippen öffnen lässt. Feines, glattes Leder und makelloses Innenfutter. Ich will sie haben! Das Modediktat für männliche Tragebehältnisse ignoriere ich: weder Aktenkoffer, noch Rucksack oder Drogenhändlerschulterbag wollen zu mir passen. Ich habe die Clutch für mich entdeckt! Sie nimmt mein Notizbuch, ein Tablet, das Tastentelephon, den Schlüsselbund und das ganze Geld auf. Plus Füller.
Habe ich das geträumt oder hat die freundliche Verkäuferin erzählt, meine neue Clutch stamme aus dem Nachlass von Leni Riefenstahl? Ich glaube, es ist wahr. Hier das Beweisfoto: die umstrittene Filmemacherin – mit meiner Clutch! – im Gespräch mit einem C-Promi von damals.
Emanzipation der Clutch
Damit hat vor 100 Jahren niemand gerechnet, aber die Ware ist schlauer als ihr Schöpfer: die Tasche ohne Griff hat sich aus der weiblichen Vereinnahmung befreit und liegt jetzt auch in Männerhand.2 Die Clutch soll 95 Euro kosten, für 80 darf ich sie mitnehmen. Ich frage mich, ob eine Handtasche der Gegenwart auch nach 100 Jahren noch eine funktionierende Handtasche ist: sicher nicht, das meiste von heute taugt nichts, es sei denn, man trägt ein Vermögen zu Manufactum3.
Tony Bennett mit Lady Gaga 2015. Photo: Wikimedia Commons
Der Sänger Tony Bennett wurde von seiner Plattenfirma gefragt, warum er keine neue Lieder aufnehmen will. Weil sie nicht so gut sind wie die alten! – sagte er. Ich war dabei4, als der 88-jährige Jazzsänger im Berliner Admiralspalast das schon sehr benutzte Lied „Fly me to the Moon“5 so erzählt hat, als wolle er wirklich zum Mond, und als handelte es sich nicht nur um eine romantische Metapher aus einer Zeit, in der kaum jemand einen Fernseher hatte.
Singen ohne zu singen
Tony Bennett, von dem Frank Sinatra sagte, er sei der beste Sänger der Welt, hat sein Leben lang dieselben Songs gesungen. Trotzdem klangen sie nie gleich. 1964 singt der italienische Beau mit den langen Wimpern „I left my heart in San Francisco“. 57 Jahre später steht der beseelte Senior mit dem gütigen Glanz in den Augen und demselben Lied auf der Bühne.6
Wirkt es nicht so, als ob er die Worte gerade eben erfindet? Er scheint die geheime Broadwayregel „Lass dich nicht beim Singen erwischen“ verinnerlicht zu haben: er beeindruckt uns nicht mit dem Zurschaustellen vokaler Akrobatik, sondern mit Berührung. Sein Gesang ist immer eine Erzählung, keine Arie.
Jetzt ist der große Gentleman of Music zwei Wochen vor seinem 97. Geburtstag gestorben. In seinem Buch Life is a Gift sagt er:
„Es geht nicht darum, dass du singen willst, sondern dass du singen musst. Ich kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen, als zu versuchen, die Menschen für eineinhalb Stunden ihre Probleme vergessen zu lassen. Man hebt ihre Stimmung und gibt ihnen ein Gefühl der Hoffnung. Das ist es, was ein guter Psychiater tut, um seinen Patienten zu helfen.”
Ich habe das Gefühl, Herr und Frau Wiemer, Ires und die Herrschaften vom Antik-Center wissen, was Tony Bennett meint.
Ich danke fürs Lesen! Ich kann manchmal mein Glück nicht fassen: Was ich gerade schreibe, wird morgen und in den Tagen danach wieder tausendfach gelesen. Ganz ohne Zeitung oder Verlag. Dass immer mehr von Euch den PayPal-Button drücken und mir ein bisschen Geld zukommen lassen, bestätigt Tonys Philosophie: ich bin dankbar – und freue mich über jeden Euro.
Ich weiß, dass einige von Euch mit PayPal Schwierigkeiten haben. Ich arbeite an einer anderen Möglichkeit, es dauert ein bisschen.
Das Internet ist nicht Herrn Wiemers Sache. Seine Homepage-Ästhetik ist so alt, dass sie schon fast wieder cool ist. Der Besucherzähler zeigt 489 Zugriffe seit 2001. Hier ein Bericht über Herrn Wiemer und seine Frau Susanne Jagalla in der Taz.
Ich empfehle die Lektüre von „Der haptische Kick des Manufactumkatalogs”
Ich liebe Lieder des Great American Songbook! Songs wie „Smile“, „I’ve got you under my skin“ und „What a difference a day made“ erscheinen so reich und universal, dass sie über Jahrzehnte immer wieder gesungen werden – von Billie Holiday über Robbie Williams, Rod Stewart, Lady Gaga oder Jamie Cullum. Tonys Begründung, dass die neuen Songs nunmal eben nicht so gut sind wie die alten, hat mich angestachelt: nach dem Konzert in Berlin war ich fest entschlossen, Songs zu schreiben, die Tonys Anerkennung finden könnten. Eineinhalb Jahre später war mein Jazzalbum „Lieder für den späten Abend“ fertig. Ob es Tony gefallen hätte? Ich hatte keine Idee, wie ich ihn hätte fragen können. Immerhin lief das Album eine Zeit lang im Jazzradio. Dieser Song hier ist, glaube ich, ganz gelungen. Wer jetzt richtig durchdreht, kann die CD ganz altmodisch bei mir bestellen. Sie kommt dann, auf Wunsch signiert, mit persönlichem Dank per Post. Wenn du Jazz nicht magst, lies meine Kolumne „Fremdgehen im Jazzclub.”
Fly me to the Moon, Tony Bennetts letztes Konzert 2021
I left my heart in San Francisco: Tony Bennett 1964, Tony Bennet mit 95 im Jahr 2021
Berlin ist einfach der größte Flowmarkt der Welt , da kommt Primark und Walmart und greif zu Drivethru und der ganze Konsum Wahnsinn gar nicht dran... Sonntags auf der bürgerweide gibt es noch Pommes und man kann in Bremen teilweise noch lustige taschenbücher und alte Kassetten kaufen als wäre es 1996. Als es nach Münster fernsprecher gab mit mindestens 20 Pfennig warst du dabei. Alter ist irgendwie nur eine Sichtweise der Perspektive. Danke dass du mir mal wieder den Sonntag gerettet hast!
Hinterlässt ein angenehmes Gefühl diese Kolumne heute..