Heute Vormittag saß ich mit dem Theaterwissenschaftler Rainer Glaap im Eiscafé. Anlässlich eines Interviews der ZEIT mit ehemaligen Schauspielschülern verfluchten wir einstimmig den hierarchischen Horror, der in vielen Theatern herrscht1. Und die Bigotterie, wenn sich päpstlich geführte Kulturtempel als Stätten der Demokratiebewahrung inszenieren. Dieses moralische Doppelmaß erinnert mich an die kirchliche Praxis, der Ausschweifung mit Buße zu begegnen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich als Kind das erste Mal mit diesem hässlichen Begriff in Berührung kam – und welches Glück ich hatte, dass ich die Buße zur Muße ummünzen durfte.
Buß- und Bettag im November 1977, draußen war es dunkel, schulfrei dank Jesus. Ich war 9 Jahre alt, hatte einen Haufen Asterixhefte und eine große Schüssel Erdnussflips. Meine Mama hat mir aus Bettdecken eine Höhle gebaut, es war schön warm und ich hatte beste Laune beim ziellosen Verstreichenlassen dieses finsteren Tages. Ich ahnte schon, dass mir die religiöse Bedeutung des Buß- und Bettages nicht schmeckt: ohne etwas verbrochen zu haben, sich seiner Sünden schämen und Reue empfinden zu müssen ist kein gutes Programm für die meisten Kinder. In diesem Jahr damals fiel der kirchlich verordnete Feiertag des schlechten Gewissens mit dem Geburtstag meines Großvaters zusammen.
Mein Großvater war Lehrer. Sogar Rektor einer Realschule. Er nahm seinen Beruf sehr ernst – in ihm wohnte der Anspruch, Bescheid zu wissen. Er lernte in einer Zeit, als Lehrer noch nicht fachlich spezifiziert waren, sondern alles können und wissen mussten: Sprachen, Naturwissenschaften, Sport und Musik. Noch in seinen letzten Lebensjahren lag ein Bananenkarton mit Sachbüchern auf dem Beifahrersitz seines Ford Taunus. In jedem Buch steckte ein angespitzter Bleistift als Lesezeichen. Stand er im Stau, lernte er ein paar Vokabeln Türkisch, um seine neuen Nachbarn in ihrer Muttersprache zu beeindrucken. Oder er las sich Elementarwissen über die Aufzucht von Heidschnucken, Portraitzeichnen oder die Schulung von Hunden an.
Ich habe gerade ein Konzert im Erzgebirge gespielt, in Annaberg-Buchholz. Mein Hotel heißt „Wilder Mann“. Die Veranstalterin erklärt mir die Herkunft des Namens der Herberge, die schon viele Jahrhunderte so heißt. Es gab hier einen Brauch: Wurde in Annaberg geheiratet, feierte man nach der Trauung in diesem Wirtshaus. Direkt über der Gaststube befand sich die den frisch Verheirateten vorbehaltene Liebessuite. Am Bettgestell soll eine Kette befestigt gewesen sein, die durch den Fußboden ins Wirthaus hineinhing, an ihrem Ende eine Glocke. Bei einer gewissen Heftigkeit der Bettenbewegung bimmelte die Glocke. So ging Porno im 16. Jahrhundert! Die Hochzeitsgesellschaft konnte ihre lüsternen Phantasien auf die frisch getrauten Eheleute projizieren und wurde Zeuge des Niveaus der Leidenschaft, die die beiden verband. Im Laufe einer bestimmten Hochzeitsnacht, in der die Glocke bis zum Morgengrauen schallte, bekam die Herberge ihren Namen. Man schrieb die lustvolle Ausdauer ganz selbstverständlich dem Gatten zu, der besonders heftig die Ehe vollzog. Warum nicht „Gasthaus zur Nymphomanin“, „Hotel Horny Helene“ oder gendersensibel „Pension der bebenden Betten“ mit dem catchy Claim „Wo nach den Kirchenglocken die Schellen der Lust läuten“?
Mein Großvater hielt nichts von der moralischen Bevormundung durch die Kirche. Mit Verstand betrachtet, kann man sich über eine Institution ja auch nur wundern, die einerseits mit feierlichem Brimborium die Liebe zelebriert, inklusive enthemmter Hochzeitsnacht – und dann: Buß- und Bettag, bitte einmal schämen für das unbändige Verlangen.
Vielleicht begriff mein Opa die theologische Institution auch als Konkurrenz, denn er machte keinen Hehl daraus, dass er für die meisten Fragen die richtigen Antworten kannte. Gebetet hat er meines Wissens nie, und statt sich selbst zu verurteilen und Buße zu tun, hat er sich lieber seinen Heidschnucken gewidmet oder ein neues Wissensgebiet auf einer Autobahnbaustelle erschlossen. Ich sitze im glücklichen Nachhall eines gelungenen Konzerts im Sessel des Hotels „Wilder Mann“ und höre eine ganz entfernte Kirchenglocke. Ich frag gleich mal beim Zimmerservice nach Erdnussflips. Vielleicht haben sie hier auch Asterixhefte.
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Apropos Bedürfnis: Seit 2007 leite ich das musikalische Bildungsprojekt „Melodie des Lebens” in einem Bremer Brennpunktbezirk. Seit ein paar Tagen ist mein Kurzfilm über dieses einzigartige Vorhaben mit dem Zukunftslabor der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen zu sehen:
Weil Theater auch schön sein kann: Lies dies: