Ich spüre das archaische Verlangen, den Idioten zu töten, der in der Eisenbahn laut durch sein Insta scrollt. Statt zur Machete greife ich zum Gespräch. Ich rede mit ihm, wir sind Menschen – und als Reaktion auf meine Bitte passiert sogar ein kleines Wunder: er bittet um Entschuldigung, schaltet seinen Handylautsprecher aus und gibt sich als Mensch zu erkennen, als soziales Wesen. Meine Mordlust ist damit vom Tisch und die Therapeutin hat weniger zu tun.
Manchmal kommt eine Katze zu Besuch. Sie legt sich auf einen der gepolsterten Terrassenstühle, pennt ein paar Stunden, dann kümmert sie sich wieder um ihre Geschäfte. Dazu gehört auch, einen Vogel umzubringen. Sie macht das nur, weil sie es kann, der Vogel hat Pech gehabt.
Ich habe mir einen Beruf ausgesucht, in dem die Probleme der Welt nicht gelöst werden können. Nachweislich hat Musik noch keinen Krieg beendet. Sie kann die Vögel nicht schützen und die Katzen nicht zähmen. Der Nahostkonflikt lässt sich nicht gesanglich lösen und Putin wird nicht symphonisch davon abzuhalten sein, in der Ukraine zu morden. Aber eigentlich ist Menschsein toll. Wir haben soviel auf die Reihe gekriegt, seit wir vor ein paar Milliarden Jahren aus dem Wasser gekrochen kamen: Kultur erfunden, und erkannt, dass wir zu mehr in der Lage sind als uns gegenseitig umzubringen. Wir haben, evolutionär gesehen, mehr drauf als Nachbars Katze. Wir sind in der Lage, unsere Gefühle zu benennen und Entscheidungen zu treffen, denn wir sind unseren Emotionen nicht ausgeliefert. Wir sollten sie zwar ernstnehmen, sie sind der Stoff, aus dem unser Charakter besteht – aber geformt wird er durch Haltung, durch unsere Entscheidungen.
Ich habe mich zum Beispiel charakterlich von einem verschüchterten Stubenhocker, der Angst vor der Welt da draußen hat, zu einem weltoffenen Bonvivant geformt, der in Kauf nimmt, für naiv gehalten zu werden – meine Entscheidung! So pathetisch es auch klingen mag: Im Gestalten des eigenen Lebens erfahre ich mein Menschsein.
Ich will nämlich nicht der Vogel sein, aber auch nicht die Killerkatze. Mein Leben soll von Sinn erfüllt sein. Gerade ist es das auch: Seit ein paar Wochen wird meine Idee einer neuen deutschen Nationalhymne immer mehr zur Realität. Mit mehreren Chören war ich im Tonstudio, um mit ihnen zu singen. Ein Ensemble aus Musikerinnen und Musikern aus Deutschland, Chile, der Ukraine, Ungarn und den USA hat gemeinsam den hymnischen Klang einer Lebensfreude ausstrahlenden Begleitung der neuen Worte aufgenommen. Jugendliche aus aller Welt haben die berühmte Melodie von Haydn in Mikrophone gesungen, und alle haben sich wiedergefunden in der Zeile „… weil uns alle mehr verbindet als uns trennt.”1
Gestern hat mir der phantastische Oboist Albrecht Mayer die Freude gemacht, die Aufnahme mit seiner Kunst zu bereichern. Als Albrecht Mayer gespielt hat, hörte ich viel mehr als nur die Töne, die ich für ihn aufgeschrieben habe. Er erzählt nicht nur meine Komposition, sondern auch eine Geschichte über sich selbst. „Man wächst nicht an Grenzen, sondern mit der Freiheit”, sagt er. Vielleicht ist das eines der Geheimnisse seines unverwechselbaren Sounds, der sich anfühlt wie eine innige Umarmung. Mit der Erfahrung von Albrechts Oboenklang im Ohr bin ich in der Eisenbahn beim nächsten Handylärm vielleicht etwas gnädiger. Den Katzen ist das leider egal.2
Freundinnen, Freunde, danke fürs Lesen der 160. Ausgabe von Sonntagskind – es macht mich glücklich, zu wissen, dass ich wöchentlich an Eurem Frühstückstisch sein darf. Ein herzliches Willkommen auch an die vielen neuen Leute, die diese Kolumne in der letzten Woche abonniert haben. ich wünsche einen fabelhaften Sonntag!
Das Video kommt ganz feierlich am Tag der Deutschen Einheit zur Welt. Bis dahin ist noch viel zu tun: Filmausschnitte schneiden, synchron auf die Musik setzen, bewegte Textzeilen animieren und alles schön bunt machen. Am 3. Oktober auf diesem Youtubekanal! Mehr über die Idee einer neuen Hymne hier:
Könnten Katzen lesen, hätten sie die Chance, sich die Verwandlung zum Vorbild zu nehmen, die Albrecht Mayer in seinem Buch „Klangwunder” beschreibt. Dann hätten auch die Vögel mehr zu lachen.
eine großartige Idee !